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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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raschelten die Blätter, als ob ganze Heerscharen von Schlangen hindurchkriechen würden.
    Und die Bäume, die ihnen tagsüber Schatten gespendet hatten, machten Angst, so nackt, ausgemergelt und hungrig wirkten sie.
    »Warum mache ich das alles bloß?« fragte er sich, während er hinter Wendell durch die Dunkelheit lief. »Mir ist kalt, und ich fühle mich nicht wohl.« (Er hätte auch noch »Ich habe Angst«
    hinzufügen können, aber das behielt er lieber für sich.) Er wollte gerade den Vorschlag machen, daß sie umkehrten, da deutete Wendell in die Höhe und zischte:
    »Schau!«
    Harvey blickte hoch. Direkt über ihren Köpfen zeichnete sich eine stumm dahinfliegende Figur gegen den Himmel ab. Es sah aus, als hätte sie sich eben erst vom Dachvorsprung des Hauses aufgeschwungen. Der Mond hatte sich hinters Dach verkrochen und spendete dem nächtlichen Flieger kein Licht. Also konnte Harvey seinen Umriß nur auf Grund der Sterne erahnen, die er beim Fliegen verdeckte. Das Wesen hatte riesige, total zerfran-ste Flügel. So zerfetzt, daß es nicht hochkommen würde, 57

    dachte er. Doch es schien mit seinen Klauen die Dunkelheit zu packen, als ob es an der Luft selbst hochklettern könnte.
    Harvey war nur ein kurzer Blick vergönnt, dann war es verschwunden.
    »Was war denn das ?« flüsterte er.
    Keine Antwort. Während er einige Augenblicke in den Himmel hinaufgestarrt hatte, hatte sich Wendell aus dem Staub gemacht.
    »Wendell?« flüsterte Harvey. »Wo bist du?«
    Aber es kam keine Reaktion. Nur das schlängelnde Geräusch in den Blättern und das Stöhnen hungriger Äste waren zu hören.
    »Ich weiß, was du machst.« Harvey rief nun schon lauter.
    »Und so leicht wirst du mich nicht erschrecken. Hörst du?«
    Diesmal reagierte tatsächlich etwas, aber nicht mit Worten.
    Irgendwo in den Bäumen knackte es.
    Er klettert ins Baumhaus hinauf, schoß es Harvey durch den Kopf. Er ging dem Geräusch nach, wild entschlossen, Wendell zu fangen und ihn zu erschrecken.
    Obwohl die Äste kahl waren, bildeten sie doch ein so dichtes Geflecht, daß das Sternenlicht nur schwach in das Wäldchen fiel. Er drehte seine Maske nach hinten, um ein bißchen besser sehen zu können, aber auch so war er fast blind. Er mußte sich an den Geräuschen orientieren, die Wendell beim Hochklettern machte. Noch immer konnte er es deutlich knacken hören. Mit ausgestreckten Armen stolperte er darauf zu, denn er wollte sich sobald wie möglich an der Leiter festhalten.
    Jetzt klang das Geräusch so laut, daß er überzeugt war, er stünde direkt unter dem Baum. Er hoffte, diesen Schwindler wenigstens einmal kurz zu erwischen, und schaute hoch. In diesem Moment streifte etwas sein Gesicht. Er wollte zugrei-fen, aber da war es schon wieder weg. Aber dann kam es wieder. Diesmal streifte es von der anderen Seite seine Augenbraue. Er schnappte ein zweites Mal danach, aber erst als es ihn 58

    noch einmal streifte, konnte er es tatsächlich festhalten.
    »Ich hab’ dich!« rief er.
    Auf sein Siegesgeheul hin sauste etwas durch die Luft und fiel krachend neben ihm zu Boden. Harvey machte einen Satz, hielt aber trotzdem hartnäckig das Ding fest, was es auch sein mochte.
    »Wendell?« rief er.
    Als Antwort flammte in der Dunkelheit hinter ihm ein Streichholz auf. Mit einem grünen Funkenregen explodierte ein Feuerwerk und verwandelte das Wäldchen in eine faulig glühende Höhle.
    Und im flackernden Licht sah er endlich, was er wirklich festhielt. Da stieß er einen so gequälten Klagelaut aus, daß die Krähen von ihren hochgelegenen Sitzplätzen aufflatterten.
    Er hatte keine Leiter knarren hören, sondern ein Seil. Nein, auch kein Seil, sondern – eine Schlinge. Und in seiner Hand hielt er das Bein eines Mannes, der an der Schlinge baumelte.
    Er ließ es los, taumelte nach hinten, und als sein Blick nach oben fiel, konnte er mit Mühe einen zweiten Schrei unterdrük-ken. Er schaute direkt in die starren Augen eines Toten. Nach dem Gesichtsausdruck zu schließen, war er eines schauderhaf-ten Todes gestorben. Zwischen schaumverschmierten Lippen baumelte die Zunge heraus, und seine Adern waren so ange-schwollen, daß der Kopf einem Kürbis glich.
    Oder war es ein Kürbis?
    Jetzt schoß ein neuer Funkenregen aus dem Feuerwerk, und Harvey sah, wie es sich in Wirklichkeit verhielt. Das Bein, das er in der Hand gehabt hatte, war ein ausgestopftes Hosenbein, der Körper ein Mantel aus Stoffetzen und der Kopf ein mas-kierter Kürbis. Creme diente als

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