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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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genauso aus wie damals, als Rictus ihn geholt hatte. Die gestohlenen Jahre waren wieder da, wo sie hingehörten: in seinem Besitz.
    »Ich bin ein guter Dieb«, sagte er halblaut zu sich selbst.
    »Ach, mein Liebling«, rief seine Mutter und kam mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
    Er umarmte zuerst sie und dann seinen Vater.
    »Wo hast du dich bloß herumgetrieben, mein Sohn?« wollte der wissen.
    Harvey fiel wieder ein, wie schwierig es beim letzten Mal gewesen war, alles zu erklären. Deshalb versuchte er es gar nicht erst, sondern sagte:
    »Ich bin einfach herumgestromert und habe mich verlaufen.
    Ich wollte euch nicht beunruhigen.«
    »Du hast gerade etwas von einem Dieb gesagt.«
    »Habe ich?«
    »Du weißt ganz genau, daß es so war«, sagte sein Papa streng.
    »Na ja … Ist man denn ein Dieb, wenn man etwas nimmt, was einem zuerst gehört hat?« fragte ihn Harvey.
    Seine Eltern schauten sich verdutzt an.
    »Nein, mein Schatz«, sagte seine Mama, »natürlich nicht.«
    »Dann bin ich auch kein Dieb«, antwortete Harvey.
    »Harvey, ich finde, du bist uns die Wahrheit schuldig«, sagte seine Mama. »Wir möchten alles wissen.«
    »Alles?«
    »Alles«, bekräftigte sein Papa.
    Also erzählte er ihnen die ganze Geschichte von vorne, so wie sie es hatten wissen wollen. Als er ihnen das erste Mal seine Abenteuer berichtet hatte, hatten sie zweifelnd dreingeschaut.
    Jetzt aber glaubten sie kein Wort.
    »Erwartest du wirklich von uns, daß wir dies alles glauben?«
    unterbrach ihn sein Vater, während Harvey von seiner Begegnung mit Hood im Speicher erzählte.
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    »Ich kann euch das Haus zeigen«, sagte er, »oder was davon noch übrig ist. Letztes Mal konnte ich’s nicht finden, weil es sich vor den Erwachsenen versteckt hielt. Aber Hood ist fort, und deshalb ist auch keine Zauberkraft mehr da, um es zu verbergen.«
    Wieder einmal schauten sich seine Eltern verblüfft an.
    »Wenn du dieses Hood-Haus tatsächlich finden kannst«, sagte sein Vater, »würden wir beide es gerne sehen.«
    F rüh am nächsten Tag brachen sie auf, und diesmal verschlei-erte keine Zauberkraft den Weg zum Haus, ganz wie es Harvey erwartet hatte. Mühelos fand er die Straßen wieder, durch die ihn Rictus beim ersten Mal geführt hatte, und bald tauchte vor ihnen der sanfte Hügel auf, auf dem einmal das Haus gestanden hatte.
    »Hier ist es«, erklärte er seinen Eltern. »Hier stand das Haus.«
    »Aber Harvey, das ist doch nur ein Hügel«, sagte sein Papa.
    »Ein mit Gras bewachsener Hügel.«
    Es war tatsächlich ein überraschender Anblick, daß der Boden, auf den sich so viele schreckliche Dinge ereignet hatten, so rasch wieder grün geworden war.
    »Sieht doch alles ganz hübsch aus«, meinte seine Mutter, als sie zu der Stelle kamen, wo die Nebelmauer gewesen war.
    »Ich kann beschwören, daß die Ruinen hier drunter sind«, sagte Harvey, während er sich zur Anhöhe vorwagte. »Ich werde es euch zeigen. Kommt mit.«
    Sie waren nicht die einzigen Besucher an diesem Tag. Mehrere Kinder nutzten den Wind ganz oben auf dem Hügel zum Drachensteigen, ein Dutzend oder auch mehr Hunde tobten herum, Kinder rollten lachend den Hang hinunter, und sogar ein Liebespaar war da und flüsterte sich etwas ins Ohr.
    Harvey ärgerte sich über die Anwesenheit all dieser Leute.
    Wie konnten sie es wagen, hier einfach herumzutollen, zu 230

    lachen und ihre Drachen steigen zu lassen, dachte er, als ob dies ein ganz gewöhnlicher Ort wäre? Und er hätte ihnen allen gern erzählt, daß sie sich auf den Ruinen eines Vampirhauses amüsierten. Dann hätte er sehen können, wie schnell ihnen das Lachen vergangen wäre.
    Aber dann fiel ihm ein, daß es so vielleicht doch besser war.
    Besser als wenn über den Hügel Gerüchte und Geschichten umgehen würden. Vermutlich würde Hoods Name den Lieben-den und Drachenfliegern hier nie über die Lippen kommen, und warum sollte er auch? In glücklichen Herzen hatte sein böser Geist keinen Platz.
    »Nun?« sagte Harveys Papa, während sie alle drei den Hang hinaufkletterten. »Dein Haus ist ja ganz schön tief vergraben.«
    Harvey ging in die Hocke und grub mit bloßen Händen in der Erde. Der Boden war weich und duftete süßlich und fruchtbar.
    »Merkwürdig, nicht wahr?« sagte eine Stimme.
    Beide Fäuste voll Erde schaute er von seiner Beschäftigung hoch. Ein paar Schritte von ihm entfernt stand ein Mann, der etwas älter als sein Vater war und lächelte.
    »Wovon reden Sie?« fragte Harvey.
    »Die

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