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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Wunsch nach einem Vollmond gehört, denn als er und Wendell nach oben tappten und aus dem Treppenhausfenster schauten, hing der Mond 54

    zwischen den kahlen Baumästen. Ein Mond so groß und schaurig weiß wie ein riesiger grinsender Totenschädel.
    »Schau dir das an!« rief Harvey. »Ich kann jeden Krater erkennen. Phantastisch!«
    »Ach, das ist erst der Anfang«, versprach Wendell und führte Harvey in einen großen, stickigen Raum, randvoll mit Kleidungsstücken aller Art. Einige hingen an Haken und Kleiderbügeln, andere lagen wie Bühnenkostüme in Körben, aber die meisten waren einfach am anderen Ende des Zimmers auf dem staubigen Boden aufgehäuft. Doch da war noch etwas.
    Der Anblick raubte Harvey buchstäblich den Atem: eine ganze Wand voller Masken, vom Boden bis zur Decke.
    »Woher stammen die bloß alle?« stammelte Harvey und starrte mit offenem Mund auf das eindrucksvolle Bild.
    »Mr. Hood sammelt sie«, erklärte Wendell, »und die Kleider haben Kinder, die hier zu Besuch waren, zurückgelassen.«
    Die Kleider reizten Harvey wenig, aber die Masken hypnoti-sierten ihn förmlich. Nicht eine von ihnen glich der anderen.
    Einige bestanden aus Holz oder Plastik, andere aus Stroh, Stoff oder Papiermache. Einige waren bunt wie Papageien, andere bleich wie Pergament. Einige wirkten so grotesk, daß nur Verrückte so etwas geschnitzt haben konnten, und wieder andere waren so vollendet wie die Totenmasken von Engeln.
    Es gab Clownsmasken und Füchse, Totenköpfe mit echten Zähnen und eine Maske mit einer Flammenmähne.
    »Such dir was aus«, sagte Wendell. »Gibt sicher irgendwo
    ‘nen Vampir. Egal, wonach ich suche, hier find ich’s früher oder später.«
    Harvey beschloß, sich die Suche nach einer Maske als letztes Vergnügen aufzusparen, und buddelte als erstes ganz konzen-triert nach einem Kleidungsstück, das irgendwie fledermausartig war. Und während er sich durch die Kleider-berge arbeitete, kamen ihm immer wieder die Kinder in den Sinn, die sie hier zurückgelassen hatten. Geschichtsunterricht 55

    hatte er zwar noch nie ausstehen können, trotzdem wußte er, daß einige Jacken, Schuhe, Hemden und Gürtel schon sehr lange aus der Mode waren. Wo waren ihre Besitzer jetzt?
    Vermutlich tot oder so alt, daß es keinen Unterschied machte.
    Bei dem Gedanken, daß diese Kleidungsstücke Toten gehörten, lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Aber das war ganz in Ordnung, schließlich war Halloween. Und was wäre Halloween ohne ein paar Gruseleien?
    Nachdem er einige Minuten gesucht hatte, fand er einen langen, schwarzen Mantel, bei dem er den Kragen hochschla-gen konnte. Wendell fand, damit sähe er echt vampirhaft aus.
    Hochzufrieden mit seiner Wahl ging Harvey zu der Wand mit den Masken. Und beinahe im selben Moment stach ihm eine in die Augen, die er vorher nicht bemerkt hatte. Bleich und mit tiefen Augenhöhlen wie eine Seele aus dem Grab. Er nahm sie herunter und zog sie an. Sie paßte perfekt.
    »Wie sehe ich aus?« fragte Harvey und wandte sein Gesicht Wendell zu. Der hatte eine gut sitzende Scharfrichtermaske gefunden.
    »Häßlich wie die Nacht.«
    »Gut.«
    A ls sie ins Freie traten, stand eine ganze Familie flackernder, ausgehöhlter Kürbisköpfe nebeneinander auf der Veranda, und die Nebelluft war voller Holzrauch.
    »Wohin gehen wir denn zum Leute-Erschrecken?« wollte Harvey wissen. »Auf die Straße?«
    »Nein«, sagte Wendell, »in der echten Welt da draußen ist doch gar nicht Halloween, hast du das vergessen? Wir werden zur Hinterseite des Hauses gehen.«
    »Das ist aber nicht sehr weit«, bemerkte Harvey enttäuscht.
    »Zu dieser Nachtzeit schon«, sagte Wendell. Seine Stimme klang unheimlich. »Dieses Haus steckt voller Überraschungen.
    56

    Wirst schon sehen.«
    Harvey schaute durch die winzigen Augenlöcher seiner Maske zum Haus hinauf. Wie eine riesige Gewitterfront ragte es drohend empor, und mit seiner gezackten Wetterfahne konnte es sogar die Sterne aufspießen.
    »Mach schon«, rief Wendell, »wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
    Einen langen Weg? dachte Harvey erstaunt. Wie konnte der Weg von der Vorderseite des Hauses bis zur Rückfront lang sein? Aber wieder einmal hatte Wendell recht: Das Haus steckte tatsächlich voller Überraschungen. Ein Spaziergang, der am hellichten Nachmittag höchstens zwei Minuten gedauert hätte, erwies sich gleich darauf als anstrengender Gewaltmarsch. Harvey wünschte, er hätte eine Taschenlampe dabei gehabt. Unter den Füßen

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