Das Haus der verschwundenen Jahre
dasselbe: Als er unten ankam, war er bereits tot.
Der Lärm brachte eine aufgescheuchte Mrs. Griffin zurück.
»Schätze, ich werd’ mich lieber mal verziehen und draußen weiteressen«, sagte Wendell, als die alte Frau in der Tür auftauchte. Er schnappte sich mehrere Hot dogs und war gleich darauf verschwunden.
»Ach du lieber Himmel!« schrie Mrs. Griffin, als sie den toten Kater erblickte. »O du törichtes Ding!«
»Es war ein Unfall«, sagte Harvey. Ihm war ganz schlecht von der Geschichte. »Er war auf dem Herd –«
»Törichtes Ding, törichtes Ding«, war alles, was Mrs. Griffin hervorbrachte. Sie sank auf die Knie und starrte das traurige, kleine, verbrannte Fellbündel an. »Jetzt wirst du keine Fragen mehr stellen«, murmelte sie schließlich.
Als Harvey Mrs. Griffin so unglücklich da knien sah, brann-41
ten ihm die Augen wie Feuer. Aber er haßte es, wenn ihn jemand weinen sah. Also kämpfte er so gut wie möglich gegen seine Tränen an und sagte äußerst schroff:
»Soll ich Ihnen helfen, ihn zu begraben?«
Mrs. Griffin sah sich um. »Sehr lieb von dir«, sagte sie leise,
»aber das ist nicht nötig. Geh du lieber nach draußen spielen.«
»Aber ich möchte Sie nicht allein lassen«, erwiderte Harvey.
»Oh, Kind, schau dich nur an«, sagte Mrs. Griffin. »Du hast ja Tränen auf den Wangen.«
Harvey wurde rot und wischte sie mit dem Handrücken ab.
»Du mußt dich nicht schämen, wenn du weinst«, sagte Mrs.
Griffin. »Weinen ist etwas Wunderbares. Ich wünschte, ich könnte noch mal ein, zwei Tränen vergießen.«
»Sie sind traurig«, meinte Harvey. »Das sehe ich doch.«
»Was ich fühle, ist nicht unbedingt Trauer«, erwiderte Mrs.
Griffin. »Allerdings, fürchte ich, hat es auch nicht sehr viel mit Trost zu tun.«
»Was ist Trost?« fragte Harvey.
»Etwas Beruhigendes«, entgegnete Mrs. Griffin und stand wieder auf. »Etwas, das dein Herzeleid heilt.«
»Und davon besitzen Sie gar nichts?«
»Nein, davon besitze ich nichts«, sagte Mrs. Griffin. Sie streckte die Hand aus und berührte Harveys Wange. »Es sei denn in deinen Tränen. Sie beruhigen mich.« Während sie die Tränenspuren mit den Fingern nachzog, seufzte sie. »Kind, deine Tränen sind so lieb wie du selbst. Aber jetzt geh hinaus und amüsier dich. Die Treppe liegt noch im Sonnenschein, aber auch das wird nicht immer so sein. Glaube mir.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
»Also dann bis später«, rief Harvey und lief in den Nachmittag hinaus.
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V
Die Gefangenen
W ährend Harvey zu Mittag gegessen hatte, war es wärmer geworden. Über der Wiese – er konnte sich nicht erinnern, daß sie so grün und voller Blumen gewesen war – brütete die Hitze, und die Bäume rings ums Haus flirrten im Licht.
Er rannte darauf zu und rief dabei nach Wendell. Keine Antwort. Da schaute er zum Haus zurück in der Hoffnung, er könne Wendell an einem der Fenster entdecken. Aber in ihnen spiegelte sich lediglich ein leuchtendes Blau. Sein Blick wanderte vom Haus zum Himmel. Keine Wolke weit und breit.
Ein leiser Verdacht keimte in ihm auf. Und während sein Blick zu dem lichtflirrenden Wäldchen und den Blumen zu seinen Füßen zurückwanderte, war er sich plötzlich seiner Sache sicher. Im Laufe der einen Stunde, die er in der kühlen Küche verbracht hatte, hatte die Jahreszeit gewechselt. Der Sommer war in Mr. Hoods Ferienparadies eingezogen. Ein Sommer, genauso verzaubert wie der Frühling, der ihm vorangegangen war.
Deshalb schien der Himmel so makellos blau, deshalb sangen die Vögel aus voller Kehle. Alles wirkte so friedlich und heiter: die dichtbelaubten Bäume, die Blumen im Gras und die Bienen, die von Blüte zu Blüte summten und die Ernte des Sommers einsammelten. Ein einziges Gedicht.
Harvey vermutete, daß der Sommer nicht lange dauern wür-de. Wenn schon der Frühling nach einem Morgen wieder vorüber war, dann würde dieser herrliche Sommer aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den Nachmittag überleben.
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Besser, ich nutze ihn richtig aus, dachte er, und machte sich eilends auf die Suche nach Wendell. Endlich entdeckte er ihn.
Sein Freund hockte mit einem Stapel Comic-Heften unter einem schattigen Baum.
»Magst du dich mit hersetzen und lesen?« fragte er.
»Vielleicht später«, sagte Harvey, »zuerst möchte ich mir mal den See anschauen, von dem du erzählt hast. Kommst du mit?«
»Wozu? Hab’ dir doch gesagt, ‘s macht keinen Spaß.«
»Na schön, dann gehe ich eben
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