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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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zählen. Das machte ihn nur ganz wirr, und heraus kam sowieso nichts dabei. Eines stand für ihn jedenfalls fest: Lange bevor die Sonne zu seiner Rettung wieder schiene, würde er im Bauch dieses Untiers verschrumpelt sein.
    » S itz doch nicht nur herum und schlag die Zeit tot«, meinte seine Mama, als sie hereinkam und ihn ertappte, wie er den Regentropfen am Fenster seines Zimmers beim Fangenspiel zuschaute.
    »Aber ich hab’ doch nichts Besseres zu tun«, sagte Harvey, ohne aufzuschauen.
    »Nun, dann könntest du dich nützlich machen«, entgegnete seine Mama.
    Harvey schüttelte es. Nützlich? Das war doch nur ein anderes 9

    Wort für Schwerstarbeit. Er sprang hoch und wollte sich gerade eine Reihe von Entschuldigungen zurechtlegen – das hatte er noch nicht getan, und jenes war auch noch nicht erledigt –, aber da war es schon zu spät.
    »Als erstes könntest du mal dein Zimmer aufräumen«, sagte seine Mutter.
    »Aber –«
    »Sitz hier nicht herum und vertrödele den Tag. Das Leben ist viel zu kurz.«
    »Aber –«
    »Sei ein braver Junge.«
    Und damit überließ sie ihn wieder sich selbst. Mißmutig sah er sich im Zimmer um. Hier war ja gar nichts unordentlich. Ein oder zwei Spiele lagen herum, ein paar Schubladen standen offen, und einige Klamotten hingen nicht im Schrank – also alles in bester Ordnung.
    »Ich bin zehn«, sagte er zu sich selbst (weil er keine Ge-schwister hatte, führte er ziemlich oft Selbstgespräche). »Und ich bin doch kein Kind mehr. Also muß ich auch nicht aufräumen, nur weil sie es möchte. Das geht einem ja auf den Wecker.«
    Jetzt murmelte er schon nicht mehr vor sich hin, sondern redete ziemlich laut.
    »Ich will … Ich will …« Er ging zum Spiegel und schaute stirnrunzelnd hinein. »Hm. Ja, was will ich eigentlich?« Ein Junge mit Blondschopf, Stupsnase und braunen Augen schaute heraus und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich will«, sagte er. »Ich weiß nur, daß ich sterbe, wenn nicht bald etwas Aufregendes passiert. Genau! Ich sterbe!«
    Bei diesen Worten klapperte das Fenster. Ein Windstoß drückte hart dagegen, dann noch einer – und noch einer.
    Harvey konnte sich nicht erinnern, daß das Fenster auch nur einen Zentimeter offen gestanden hatte, trotzdem ging es mit einem Ruck plötzlich auf. Kalter Regen spritzte ihm ins 10

    Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen lief er ans Fenster und versuchte, es zuzudrücken. Diesmal wollte er ganz sichergehen, daß der Riegel auch fest geschlossen war.
    Die Lampe schaukelte im Wind hin und her, und als sich Harvey wieder umdrehte, schien das ganze Zimmer Karussell zu fahren. Einen Augenblick blendete ihn das Licht, dann strahlte es wieder die gegenüberliegende Wand an. Doch zwischen dem ganzen Hin und Her fiel der Schein auch auf die Zimmermitte. Und genau dort stand – ein Fremder und schüttelte den Regen von seinem Hut.
    Eigentlich sah er ziemlich harmlos aus, war kaum zehn Zentimeter größer als Harvey und ziemlich dürr. Seine Haut-farbe erinnerte stark an die einer Zitrone. Er hatte einen schicken Anzug an und eine Brille auf und grinste von einem Ohr zum anderen.
    »Wer bist du?« wollte Harvey wissen und überlegte krampf-haft, wie er an dem Eindringling vorbei zur Tür kommen konnte.
    »Sei doch nicht so nervös«, antwortete der Mann, fingerte einen seiner Wildlederhandschuhe herunter, ergriff Harveys Hand und schüttelte sie. »Ich heiße Rictus. Und du bist doch sicher Harvey Swick, nicht wahr?«
    »Ja …«
    »Einen Moment dachte ich schon, ich hätte mich in der Hausnummer geirrt.«
    Harvey starrte wie gebannt auf den breiten Grinsemund mit den regelmäßigen, glänzenden Zahnreihen. Ein Haifisch hätte vor Neid erblassen können.
    Rictus nahm seine Brille ab, zog ein Taschentuch aus seiner klatschnassen Jacke und begann, die Regentropfen abzuwi-schen. Entweder er oder das Taschentuch verströmte einen recht unangenehmen Geruch. Um die Wahrheit zu sagen, es stank ziemlich.
    »Ich sehe schon, du hast eine Menge Fragen«, sagte Rictus zu 11

    Harvey.
    »Tja, schon.«
    »Schieß los, ich habe keine Geheimnisse.«
    »Also, erstens, wie bist du eigentlich hier hereingekommen?«
    »Durchs Fenster, natürlich.«
    »Aber von der Straße geht’s doch ziemlich weit hoch.«
    »Nicht, wenn man fliegt.«
    »Fliegen?«
    »Na klar, wie sollte ich mich denn sonst in einer so schauder-haften Nacht vorwärts bewegen? Entweder so oder mit dem Boot. Wenn’s richtig schüttet, müssen wir kleinen Leute

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