Das Haus der verschwundenen Jahre
Blumen, der Boden«, sagte er. »Vielleicht hat diese Erde ihren eigenen Zauber – einen guten, meine ich – und damit die Erinnerung an Hood für immer begraben.«
»Sie kennen Hood?« sagte Harvey.
Der Mann nickte. »O ja.«
»Und was genau wissen Sie?« fragte Harveys Mama. »Unser Sohn hier hat uns so merkwürdige Geschichten erzählt …«
»Sie sind alle wahr«, sagte der Mann.
»Aber Sie haben sie doch nicht einmal gehört«, antwortete Harveys Papa.
»Sie sollten ihrem Jungen glauben«, sagte der Mann. »Ich weiß aus erster Hand, daß er ein Held ist.«
Harveys Vater starrte seinen Sohn an, und um seine Mund-winkel zuckte es verdächtig. »Wirklich?« sagte er. »Waren 231
auch Sie einer von Hoods Gefangenen?«
»Ich nicht«, sagte der Mann.
»Woher wissen Sie es dann?«
Der Mann blickte über seine Schulter. Dort unten am Fuß der Anhöhe stand eine Frau in einem weißen Kleid.
Harvey musterte die Fremde eindringlich und versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, aber ein breitrandiger Hut überschattete ihre Gesichtszüge. Er wollte aufstehen, um die Frau aus der Nähe zu betrachten, aber der Mann sagte:
»Nicht … bitte. Sie hat mich an ihrer Stelle geschickt, nur um hallo zu sagen. Sie hat dich so in Erinnerung, wie du bist – also jung –, und sie möchte, daß du sie genauso in Erinnerung behältst.«
»Lulu«, murmelte Harvey.
Der Mann sagte weder ja noch nein, sondern meinte zu Harvey:
»Junger Mann, ich bin dir zu großem Dank verpflichtet.
Hoffentlich bin ich ihr ein ebenso guter Ehemann, wie du ihr Freund warst.«
»Ehemann?« buchstabierte Harvey.
»Wie doch die Zeit vergeht«, rief der Mann bei einem Blick auf die Uhr. »Wir kommen zu spät zum Mittagessen. Junger Mann, darf ich dir die Hand schütteln?«
»Sie ist schmutzig«, warnte Harvey und ließ die Erde zwischen den Fingern seiner rechten Hand hindurchrieseln.
»Was gibt’s Besseres zwischen uns zweien«, antwortete der Mann lächelnd, »als diese … heilende Erde?«
Er nahm Harveys Hand, schüttelte sie, nickte Harveys Eltern zu und eilte fort, den Hang hinunter.
Harvey sah, wie er mit der Frau im weißen Kleid sprach. Sah, wie sie nickte und zu ihm herauflächelte. Dann gingen die beiden fort auf die Straße und weg.
»Nun«, sagte Harveys Vater, »anscheinend hat es deinen Mr.
Hood wirklich gegeben.«
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»Du glaubst mir also?« fragte Harvey.
»Irgend etwas ist hier geschehen«, lautete die Antwort, »und du warst ein Held. Das glaube ich.«
»Dann reicht das auch«, sagte Harveys Mutter. »Du mußt nicht mehr weitergraben, mein Schatz. Egal, was hier drunter liegt, es sollte besser begraben bleiben.«
Harvey wollte gerade die Erde aus seiner linken Hand fallen lassen, da sagte sein Vater:
»Gib das mir«, und öffnete seine Hand.
»Wirklich?« sagte Harvey.
»Ich habe gehört, ein bißchen guter Zauber sei immer nützlich«, lautete die Antwort seines Vaters. »Stimmt’s?«
Harvey lächelte und schüttete seinem Vater eine Faust voll Erde in die Hand.
»Immer«, sagte er.
D ie folgenden Tage waren anders als alle, die Harvey bisher gekannt hatte. Obwohl sie nie mehr über Hood, sein Haus und den grünen Hügel, auf dem es einmal gestanden hatte, sprachen, sprach doch jeder Blick und jedes Lachen, das er und seine Eltern tauschten, davon.
Ihm war klar, daß sie nur eine ganz vage Vorstellung davon hatten, was ihnen widerfahren war, aber in einem Punkt waren sich alle drei einig: daß es schön war, wieder zusammenzusein.
Von nun an würde Zeit immer etwas Kostbares sein. Selbstverständlich würde sie wie immer gleichmäßig vergehen, aber Harvey war entschlossen, sie nie mehr mit Seufzen und Jammern zu vergeuden. Jeden Augenblick würde er mit den Jahreszeiten ausfüllen, die er in seinem Herzen gefunden hatte.
Mit Hoffnungen, die an Vögel auf einem Frühlingszweig erinnerten. Mit Glück, das einem warmen Sommersonnen-schein glich. Mit Zauberei, wie die aufsteigenden Herbstnebel.
Aber vor allem mit dem Schönsten, mit Liebe. Mit so viel 233
Liebe, daß es für tausend Weihnachtsfeste reichte.
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