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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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hatte so schöne, wunderschöne Zähne.«
    »Wer ist denn Carna?« wollte Harvey wissen.
    »Vergiß es«, warf Jive ein und brachte Marr zum Schweigen, ehe sie darauf antworten konnte. »Leg schon los oder er verpaßt noch den richtigen Moment.«
    Marr murmelte etwas vor sich hin, dann sagte sie: »Komm zu mir, mein Junge«, und streckte die Arme nach Harvey aus. Sie fühlte sich eiskalt an.
    »Ziemlich gruselig, he?« sagte Jive, während Marr mit den Fingern über Harveys Gesicht strich und hier und dort herum-zupfte. »Hab keine Angst, sie weiß schon, was sie tut.«
    »Und was tut sie?«
    »Dich verwandeln.«
    »In was?«
    »Mußt du ihr sagen«, meinte Jive. »Wird sowieso nicht lange halten, also genieß es. Na los, erzähl ihr die Geschichte mit dem Vampir.«
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    »Genau so einen soll Wendell sehen«, meinte Harvey.
    »Einen Vampir …«, flüsterte Marr leise und preßte dabei ihre Finger härter auf seine Haut.
    »Jaaa, ich hätte gerne Reißzähne wie ein Wolf, eine rote Kehle und eine weiße Haut, als ob ich schon seit tausend Jahren tot wäre.«
    »Zweitausend!« rief Jive.
    »Zehntausend!« sagte Harvey. Allmählich genoß er das Spiel.
    »Und irre Augen, die im Dunkeln sehen können, und Spitzoh-ren wie bei einer Fledermaus –«
    »Halt!« rief Marr. »Alles schön der Reihe nach.«
    Mittlerweile arbeiteten ihre Finger so hart an ihm, als ob sein Fleisch aus Ton wäre, an dem sie herummodellierte. Sein Gesicht kribbelte. Er hätte es gerne betastet, aber er hatte Angst, dabei ihre Arbeit zu zerstören.
    »Und ‘nen Pelz braucht er auch noch«, bemerkte Jive. »Im Nacken. Glänzend und schwarz –«
    Marr patschte mit der Hand an seinem Hals herum, und er spürte, wie an den Stellen, wo sie ihn berührt hatte, ein Pelz wuchs.
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    »Und dann noch Flügel!« rief Harvey. »Vergiß bloß die Flügel nicht!«
    »Nie!« versprach Jive.
    »Breit mal deine Arme aus, mein Junge«, befahl ihm Marr.
    Er gehorchte, und sie strich mit den Händen daran entlang und lächelte.
    »Das ist gut«, sagte sie. »Das ist gut.«
    Er schaute an sich selbst herunter und konnte nur noch staunen. Plötzlich hatte er spitze, gekrümmte Finger, und von seinen Armen baumelten Lederlappen. Der Wind drückte stürmisch dagegen und drohte, ihn über kurz oder lang vom Dach zu treiben.
    »Du weißt, daß du ‘n gefährliches Spiel spielst, oder?« sagte Marr, als sie zurücktrat, um ihr Werk zu bewundern. »Entweder wirst du dir’s Genick brechen oder deinen Freund Wendell zu Tode erschrecken. Oder beides.«
    »Weib, er wird schon nicht fallen!« rief Jive. »Er hat den Dreh raus, da braucht man ihn ja nur anzuschauen.« Er musterte Harvey mit zusammengekniffenen Augen und schielte dabei heftig. »Würd’ mich nicht überraschen, mein Junge, wenn du in ‘nem andern Leben mal ein Vampir gewesen wärst«, sagte er.
    »Aber Vampire haben kein anderes Leben«, korrigierte ihn Harvey. Mit einem Mund voller Reißzähne fiel das Sprechen schwer. »Sie leben ewig.«
    »Das stimmt«, sagte Jive und schnippte mit den Fingern.
    »Das tun sie! Das tun sie!«
    »Also, ich bin fertig«, sagte Marr. »Du kannst los, mein Junge.«
    Wieder kamen Windböen auf, und Harvey wäre sicher fort-geblasen worden, wenn ihn nicht Jive auf dem Weg zur Dachkante festgehalten hätte.
    »Da ist ja dein Freund«, flüsterte Jive und deutete zu den Schatten hinunter.
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    Harvey war sehr erstaunt, als er entdeckte, daß er Wendell ganz deutlich erkennen konnte, obwohl es in dem Gestrüpp stockfinster war. Er konnte ihn auch hören – jeden kleinsten Atemzug, jeden Herzschlag.
    »Das wär’s also«, zischte Jive und legte Harvey die Hand auf den Rücken.
    »Was soll ich denn jetzt machen?« fragte Harvey. »Flattern oder was?«
    »Spring!« rief Jive. »Den Rest wird der Wind erledigen.
    Entweder er oder die Schwerkraft.«
    Und dabei schubste er Harvey über die Dachkante in die Leere hinaus.
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X
In Ungnade gefallen

    A ber da war kein Wind, der ihn in die Höhe trug. Wie ein Dachziegel, den man vom Giebel schleudert, fiel er senkrecht nach unten. Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle, blankes Entsetzen schwang darin mit. Er sah, wie sich Wendell umdrehte, sah, wie sich dessen Gesicht in Todesangst verzerrte. Und dann tauchte plötzlich der Wind aus dem Nichts auf, kalt und mächtig. Und kurz bevor er mit seinen Beinen die Büsche streifte, spürte er, daß er nach oben gerissen wurde, immer höher und höher, dem Himmel entgegen.
    Aus dem Schrei

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