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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wurde ein Juchzen und aus der Angst Freude.
    So einen großen Mond hatte er noch nie gesehen, einen Mond mit einem riesigen, weißen Gesicht, das alles beherrschte. Es erinnerte ihn an das Gesicht seiner Mutter, wenn sie sich über ihn gebeugt hatte, um ihm einen Gutenachtkuß zu geben.
    Aber heute nacht brauchte er keinen Schlaf, nein, und auch keine Mutter, die ihm angenehme Träume wünschte. Das hier war besser als jeder Traum. Mit dem Wind in den Flügeln flog er dahin, und die Welt unten zitterte ängstlich vor seinem Schatten.
    Er hielt wieder nach Wendell Ausschau und sah, daß dieser aufs Haus zufloh, um sich in Sicherheit zu bringen.
    Nein, das machst du nicht, dachte er. Seine Flügel verwandel-ten sich in ledrige Segel, und im Sturzflug sauste er auf seine Beute hinab. Ein schriller Schrei, der das Blut erstarren ließ, dröhnte ihm in den Ohren, und einen Moment dachte er, es sei der Wind. Aber dann begriff er, daß dieses unmenschliche Getöse aus seiner eigenen Kehle kam. Der schrille Schrei 90

    verwandelte sich in Gelächter, in wildes, wahnsinniges Gelächter.
    »Nicht … bitte … nicht!« schluchzte Wendell, während er weiterrannte. »Helft mir! Helft mir!«
    Da wußte Harvey, daß dies seine Rache war. Wendell drehte beinahe durch vor Angst. Aber die Sache machte viel zu viel Spaß, um jetzt damit aufzuhören. Er genoß den Sog des Windes unter sich und den kalten Mond auf seinem Rücken. Er genoß seine scharfen Augen und seine kräftigen Krallen. Aber am meisten genoß er die Angst, die er auslöste, genoß den Ausdruck, mit dem Wendell sein Gesicht nach oben wandte, genoß dessen panisches Keuchen.
    Der Wind trug ihn ins Gestrüpp hinunter. Als er landete, fiel Wendell auf die Knie und bat um Gnade.
    »Bring mich nicht um! Bitte, bitte, ich flehe dich an – bring mich nicht um!«
    Harvey hatte genug gesehen und gehört. Er hatte seine Rache gehabt. Jetzt war es Zeit, dem Spiel ein Ende zu machen, ehe der Spaß schal wurde.
    Er öffnete den Mund und wollte sich zu erkennen geben.
    Aber als Wendell die rote Kehle und die Wolfszähne sah, glaubte er, sein letztes Stündlein habe geschlagen, und fing mit seiner Bittlitanei von vorne an. Mit dem Unterschied, daß er sich diesmal nicht nur mit Bitten und Betteln zufriedengab.
    »Ich bin viel zu fett zum Fressen«, rief er. »Aber hier in der Nähe gibt’s noch ein Kind …«
    Bei diesen Worten knurrte Harvey.
    »Ja, wirklich!« sagte Wendell. »Ich schwör’s! Und an dem ist mehr Fleisch dran als an mir!«
    »Hör dir das an«, kam eine Stimme aus den Büschen neben Harvey. Er blickte sich um. Es war Jive. Seine spillerige Gestalt war zwischen den Dornenzweigen kaum auszumachen.
    »Er wünscht dir den Tod an den Hals, junger Harvey.«
    Wendell bekam von dem allen nichts mit. Er pries noch 91

    immer seinen Freund als Appetithappen an. Und zum Beweis, wie ungenießbar er selber sei, schob er sein Hemd hoch und schlackerte mit seinem Wabbelbauch.
    »Du meinst doch gar nicht mich …«, schluchzte er. »Nimm doch Harvey! Nimm Harvey!«
    »Beiß ihn«, riet Jive. »Na los, trink einen Schluck von seinem Blut. Warum denn nicht? Das Fett schmeckt abscheulich, aber das Blut ist heiß und appetitlich.« Und dabei vollführte er einen kleinen Tanz und sang und stampfte dazu im Rhythmus mit den Füßen. »Laß dir diesen Geschmack nicht entgehen! Los, iß das Fleisch!«
    Wendell heulte noch immer Rotz und Wasser. »Du meinst doch gar nicht mich. Such Harvey! Such Harvey!«
    Aber je mehr er schluchzte, um so mehr fand Harvey an Jives Gesang Gefallen. Und dann, wer war eigentlich dieser lächerliche Junge namens Wendell? Wer Harvey so bereitwillig als Festtagsbraten anbot, den konnte man wohl kaum als Freund bezeichnen. Das war doch nur ein Appetithappen. Jeder waschechte Vampir würde ihm beim ersten Anblick den Kopf abbeißen. Und doch …
    »Worauf wartest du noch?« wollte Jive wissen. »Jetzt haben wir uns so bemüht, aus dir ein Monster zu machen –«
    »Sicher«, gab Harvey zu, »aber schließlich ist es ein Spiel.«
    »Ein Spiel?« rief Jive. »Nein, nein, mein Junge, das ist viel mehr. Das ist Teil deiner Erziehung .«
    Harvey verstand nicht, was er damit meinte, und er war auch nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte.
    »Wenn du nicht bald zuschlägst«, zischte Jive, »wirst du ihn wieder verlieren.«
    Das stimmte. Wendell hatte aufgehört zu weinen und starrte seinen Angreifer verdutzt an.
    »Wirst du … mich … gehen lassen?«

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