Das Haus der verschwundenen Jahre
die Untiefen getaucht und kaute jetzt an der ertrunkenen Menagerie herum. Für diesen Fall hoffte Harvey inständig, daß er an seiner Mahlzeit ersticken würde.
Er hatte schon früher eine Menge Spielzeug verloren. Zum Beispiel seinen kostbarsten Besitz, ein nagelneues Fahrrad, das ihm von der Haustreppe weg geklaut worden war. Zwei Geburtstage war das nun schon her. Aber der heutige Verlust machte ihn genauso wütend, sogar noch mehr. Die Vorstellung, daß jetzt der See etwas besaß, das einmal ihm gehört hatte, war 76
schlimmer als der Gedanke, daß ein Dieb mit seinem Rad abgezogen war. Ein Dieb war ein lebendiges, warmes Wesen aus Fleisch und Blut, der See nicht. Sein Eigentum war in einem alptraumhaften Etwas verschwunden, in dem sich monströse Dinge tummelten. Und er hatte das Gefühl, als sei damit ein kleiner Teil von ihm selbst verschwunden, hinunter in die Dunkelheit.
Ohne einen Blick zurück ging er vom See fort. Als er aus dem Unterholz herauskam, wärmte die Luft sein Gesicht und der Gesang der Vögel umschmeichelte seine Ohren. Aber noch immer ging ihm ein Gedanke im Kopf herum, den er am liebsten schon auf dem Weg zum See aus seinen Gedanken verdrängt hätte. Das Haus der Ferien sorgte zwar für Kurzweil aller Art, aber trotzdem war es hier nicht ganz geheuer. Und so sehr er sich auch bemüht hatte, seine Zweifel zu ignorieren und seine Fragen zu unterdrücken, von jetzt an ging das nicht mehr.
Egal, wer oder besser was hier umging, von jetzt an würde Harvey nicht eher zufrieden sein, bis er dessen Gesicht gesehen und seine wahre Natur erkannt hatte.
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IX
Wovon träumst du?
H arvey erwähnte die Vorfälle am See mit keinem Wort – nicht einmal Lulu gegenüber. Erstens kam er sich dumm vor, weil er hineingefallen war, und zweitens bemühte sich das Haus in den darauffolgenden Tagen so sehr, ihm eine Freude zu machen, daß er den Unfall fast ganz vergaß. Schon gleich am Abend des besagten Unglückstages fand er unterm Weihnachtsbaum ein Stück bunte Schnur mit seinem Namen dran. Er folgte ihr durchs ganze Haus und stieß am Ende auf ein nagelneues Fahrrad, das nur auf ihn zu warten schien. Es glänzte sogar noch mehr als jenes, das er vor zwei Jahren verloren hatte.
Aber das sollte nur die erste einer ganzen Reihe von gelunge-nen Überraschungen sein, mit denen sich das Haus der Ferien nacheinander selbst übertraf. Eines Morgens kletterten Wendell und Harvey beispielsweise zum Baumhaus hinauf und entdeck-ten, daß ringsum auf den Ästen ein Schwarm Papageien und Affen turnte. An einem anderen Tag – sie waren gerade mitten in ihrem Feuerwerk-Festessen – rief ihnen Mrs. Griffin aus dem Wohnzimmer zu, sie sollten kommen. Die Flammen hatten sich in Drachen und Ritter verwandelt, die sich auf dem Kaminrost ein erbittertes Gefecht lieferten. Und an einem faulen, heißen Nachmittag weckte ein ganzer Chor von Stimmen Harvey aus dem Schlummer. Mitten auf der Wiese vollführte eine Truppe mechanischer Akrobaten Kunststücke, die ihrem Innenleben aus Zahnrädern spotteten.
Aber die größte Überraschung sollte es werden, als einer der 80
Brüder von Rictus auftauchte.
»Ich heiße Jive«, sagte er und löste sich aus dem frühen Abenddunkel oben an der Treppe. Jeder Muskel seines Körpers schien ständig in Bewegung zu sein. Das zuckte, wippte, schlackerte in einem fort, und der ganze Kerl war davon so dünn geworden, daß er kaum einen Schatten warf. Sogar seine Haare, ein öliges Lockengewirr, schien demselben verrückten Rhythmus zu folgen, denn sie drehten sich auf seinem Schädel zu einem wirren Knäuel zusammen.
»Bruder Rictus schickt mich her, um nachzuschauen, was du so treibst«, sagte er. Seine Stimme klang handfester, als er aussah.
»Mir geht’s gut«, erwiderte Harvey. »Hast du eben Bruder Rictus gesagt?«
»Wir stammen in etwa von derselben Brut«, meinte Jive.
»Hoffentlich rufst du auch ab und zu deine Eltern an.«
»Ja«, sagte Harvey. »Erst gestern wieder.«
»Vermissen sie dich?«
»Klang nicht so.«
»Und du, vermißt du sie ?«
Harvey zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich«, meinte er.
(Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit – es gab Tage, an denen er Heimweh hatte –, aber eines war ihm klar: Sobald er nach Hause zurückkehrte, müßte er bereits am nächsten Tag wieder in die Schule. Und dann würde er sich sehnlichst wünschen, er wäre noch ein bißchen länger im Haus der Ferien geblieben.)
»Dann machst du also das Beste draus,
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