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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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solange du hier bist?«
    fragte Jive und übte dabei treppauf, treppab einen verrückten, kleinen Tanzschritt.
    »Jaaa,« sagte Harvey, »ich will nur eines: mich amüsieren.«
    »Wer nicht?« grinste Jive. Dann schlich er sich an Harvey heran und flüsterte: »Weil wir schon mal beim Thema Amüsie-81

    ren sind …«
    »Wie?« fragte Harvey.
    »Du hast Wendell doch nie seinen Streich von damals heim-gezahlt.«
    »Nein, hab’ ich nicht«, gestand Harvey.
    »Und warum nicht, zum Kuckuck?«
    »Mir ist nie etwas eingefallen.«
    »Ach, ich bin sicher, wir beide könnten da miteinander etwas aushecken«, antwortete Jive hinterhältig.
    »Es muß aber schon etwas sein, was er sich nie und nimmer träumen läßt«, meinte Harvey.
    »Das sollte nicht allzu schwierig sein«, sagte Jive. »Sag mal, welches ist denn dein Lieblingsmonster?«
    Harvey brauchte nicht lange nachzudenken. »Ein Vampir«, rief er grinsend. »Ich hab’ da diese tolle Maske gefunden.«
    »Masken sind sicher ein guter Anfang«, meinte Jive, »aber richtige Vampire müssen im Sturzflug aus dem Nebel auftauchen« – dabei breitete er die Arme aus und krümmte seine langen Finger wie die Klauen eines Untiers, das einem die Augen auskratzt – »müssen runterstürzen, sich ihre Beute schnappen und wieder aufsteigen, direkt am Mond vorbei. Ich kann das ganz deutlich vor mir sehen.«
    »Ich auch«, sagte Harvey, »aber ich bin nun mal keine Fledermaus.«
    »So?«
    »So. Wie soll ich also im Sturzflug heruntersausen?«
    »Ah«, sagte Jive. »Dann wird Marr das eben für uns über-nehmen müssen. Schließlich, was wäre Halloween ohne ein, zwei Verwandlungen?« Er schaute auf die Standuhr im Treppenhaus. »Wir haben heute nacht noch genug Zeit dafür.
    Du gehst runter und erzählst Wendell, daß du dich draußen mit ihm triffst, und ich gehe aufs Dach hinauf und suche Marr. Du findest uns dann dort oben.«
    »Aber ich war noch nie auf dem Dach.«
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    »Auf dem obersten Treppenabsatz gibt es eine Tür. Ich erwarte dich dann da in ein paar Minuten.«
    »Aber ich muß doch zuerst noch meine Maske, den Mantel und all das Zeug holen.«
    »Heute nacht brauchst du keine Maske«, sagte Jive, »vertrau mir. Und jetzt beeil dich, sonst rennt uns die Zeit davon.«
    Harvey brauchte nur ein, zwei Minuten, um Wendell zu erklären, er solle schon mal vorgehen. Er war sicher, daß Wendell etwas ahnte und vielleicht seinerseits einen Gegenan-griff vorbereiten würde. Aber Harvey wußte auch, daß er und Jive einen Trumpf im Ärmel hatten, den nicht einmal Wendell voraussehen konnte. Und der war schließlich Experte für raffinierte Schocks. Nachdem Teil eins des Plans geglückt war, rannte er wieder nach oben, fand auch die Tür, die Jive erwähnt hatte, und kletterte zum Dach hinauf.
    »Hier herüber!« rief ihm Jive zu. Im Zickzack schoß Harvey die schmalen Trittbretter entlang und hinauf aufs steile Dach, wo sein Mitverschwörer bereits wartete.
    »Sicherer Tritt!« lobte Jive.
    »Kein Problem.«
    »Und wie steht’s mit Fliegen?« fragte eine dritte Stimme, deren Besitzer soeben aus dem Schatten eines Kamins trat.
    »Das ist Marr«, sagte Jive, »noch jemand aus unserer kleinen Familie.«
    Sie war der totale Gegensatz zu Jive. Der sah so gelenkig aus, daß er auch auf dem Dachvorsprung hätte balancieren können, falls ihm mal der Sinn danach stand. Dagegen schien diese Marr irgendwie Schneckenblut zu haben. Es hätte Harvey nicht gewundert, wenn ihre Finger auf den Ziegeln silbrige Spuren hinterlassen hätten oder aus ihrem kahlen Kopf weiche Fühler hervorgekommen wären. Sie war abartig fett. Das Fleisch schlackerte nur so an den Knochen herum. Um Mund und Augen, um Hals und Handgelenke, überall warf es klamm-feuchte Falten. Sie streckte die Hand aus und piekte Harvey.
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    »Also wie steht’s mit Fliegen?«
    »Was soll damit sein?« sagte Harvey und schob ihre Hand weg.
    »Oft gemacht?«
    »Einmal, nach Florida.«
    »Sie meint nicht mit ‘nem Flugzeug«, erklärte ihm Jive.
    »Oh …«
    »Vielleicht im Traum?« fragte Marr.
    »O jaaa. Ich träume oft vom Fliegen.«
    »Das ist gut«, antwortete Marr und grinste zufrieden übers ganze Gesicht. Sie hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund.
    Harvey starrte angewidert auf den leeren Schlund.
    »Wunderst dich, wo die alle hin sind, stimmt’s?« sagte sie zu Harvey. »Na los, gib’s schon zu.«
    Harvey zuckte mit den Schultern. »Schön, geh’ ich’s eben zu.«
    »Carna hat sie geklaut, diese diebische Bestie. Ich

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