Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
gewesen? Welche Lektion war es für ihn gewesen, daß er vom Dach sprang und Wendell erschreckte?
    Und dann das ganze Zeug über Seelendiebe, und daß man ihnen dienen müsse – was hatte das nun wieder zu bedeuten?
    Hatte Jive damit Mr. Hood gemeint? War er jene große Macht, deren Sklaven sie alle waren? Wenn sich Hood irgendwo in diesem Haus aufhalten sollte, warum war ihm dann noch keiner begegnet – weder Lulu, noch Wendell, noch er selbst. Harvey hatte seine Freunde über Hood ausgequetscht, aber beide hatten ihm dieselbe Geschichte erzählt: Sie hatten weder Schritte noch Flüstern noch Lachen gehört. Wenn Mr. Hood tatsächlich hier war, wo versteckte er sich dann, und warum ?
    So viele Fragen, und kaum eine Antwort.
    Und als ob’s noch nicht genug Geheimnisse gäbe, tauchte noch eine Frage auf, die ihm keine Ruhe ließ. Am späten Nachmittag lungerte er im Schatten des Baumhauses herum, da 98

    hörte er plötzlich einen frustrierten Schrei. Er lugte durch die Blätter und sah, wie Wendell quer über die Wiese rannte. Trotz der glühenden Hitze hatte er einen Anorak und Stiefel an und stampfte wie ein Verrückter umher.
    Harvey rief zu ihm hinunter, aber entweder hatte er ihn nicht gehört oder er beachtete ihn einfach nicht. Also kletterte er hinunter und lief hinter Wendell her auf die andere Seite des Hauses. Im Obstgarten fand er ihn, knallrot und verschwitzt.
    »Was ist denn los?« fragte er.
    »Ich komme nicht mehr hinaus!« sagte Wendell und zerdrückte einen halbverfaulten Apfel am Boden. »Harvey, ich möchte fort, aber es gibt keinen Ausgang!«
    »Natürlich gibt’s einen!«
    »Ich versuch’s jetzt schon stundenlang, und ich versichere dir, daß mich der Nebel immer wieder zum Ausgangspunkt zurückschickt.«
    »He, nun beruhige dich mal!«
    »Harvey, ich will nach Hause«, sagte Wendell den Tränen nahe. »Die letzte Nacht war zuviel für mich. Dieses Ding wollte mein Blut. Ich weiß ja, du glaubst es mir nicht.«
    »Aber ja«, sagte Harvey. »Großes Ehrenwort.«
    »Wirklich?«
    »Ganz bestimmt.«
    »Nun, dann solltest du vielleicht auch abhauen. Denn wenn ich weg bin, wird es dich jagen.«
    »Glaube ich nicht«, sagte Harvey.
    »Ich hab’ mir mit diesem Ort hier selbst was vorgemacht«, sagte Wendell. »Hier ist’s gefährlich. O ja, ich weiß, daß es so aussieht, als sei alles bestens, aber –«
    Harvey unterbrach ihn. »Vielleicht solltest du etwas leiser reden«, sagte er. »Wir sollten uns darüber in Ruhe unterhalten, nur unter uns.«
    »Und wo bitte?« fragte Wendell mit wirrem Blick. »Der ganze Ort beobachtet und belauscht uns. Spürst du das denn 99

    nicht?«
    »Und warum sollte er das tun?«
    »Ich weiß es nicht!« fuhr ihn Wendell an. »Aber letzte Nacht dachte ich, wenn ich nicht abhaue, dann sterbe ich hier. Eines schönen Abends bin ich einfach weg oder werde verrückt wie Lulu.« Er senkte seine Stimme auf Flüsterton. »Weißt du, wir wären nicht die ersten. Was ist mit den ganzen Kleidungsstük-ken im Oberstock? Die ganzen Mäntel, Schuhe und Hüte. Die haben mal Kindern wie uns gehört.«
    Harvey bekam eine Gänsehaut. Hatte er in den Schuhen eines ermordeten Jungen Leute-Erschrecken gespielt?
    »Ich will hier raus«, sagte Wendell, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. »Aber es gibt keinen Ausgang.«
    »Wenn’s einen Weg hinein gibt, dann muß es auch einen hinaus geben«, argumentierte Harvey. »Wir werden zur Mauer gehen.«
    Und damit marschierte er mit Wendell im Schlepptau los, um die Vorderseite des Hauses herum und den sanften Wiesenhü-
    gel hinunter. Als sie an die Nebelmauer kamen, sah sie völlig harmlos aus.
    »Sei vorsichtig«, warnte ihn Wendell. »Das Ding hat ein paar Trümpfe in der Hinterhand.«
    Harvey hatte erwartet, die Wand würde zurückzucken oder sogar die Hände nach ihm ausstrecken. Deshalb ging er langsamer, aber das Ding tat nichts dergleichen. Jetzt wurde er mutiger und spazierte mitten in den Nebel hinein. Er hatte allen Ernstes erwartet, daß er auf der anderen Seite wieder auftauchen würde. Aber durch einen Trick oder sonst etwas war er, ohne es zu wissen, nur im Kreis gelaufen, und die Wand gab ihn mit Blick auf das Haus wieder frei.
    »Was ist denn jetzt passiert?« sagte er zu sich selbst und marschierte verblüfft wieder in den Nebel hinein.
    Der Vorgang wiederholte sich. Er ging hinein und kam wieder heraus, aber auf der falschen Seite. Er versuchte es 100

    wieder und wieder und noch einmal, aber jedesmal spielte

Weitere Kostenlose Bücher