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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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man ihm denselben Streich, und schließlich war Harvey genauso frustriert wie Wendell vor einer halben Stunde.
    »Glaubst du’s mir jetzt ?« fragte Wendell.
    »Ja.«
    »Und was machen wir jetzt?«
    »Jedenfalls posaunen wir die Geschichte nicht laut herum«, flüsterte Harvey. »Wir machen einfach weiter wie immer und tun so, als ob wir unseren Plan aufgegeben hätten. Und ich werde mich mal ein bißchen hier umsehen.«
    S obald sie wieder im Haus waren, begann er mit seinen Nachforschungen. Zuerst machte er sich auf die Suche nach Lulu. Ihre Schlafzimmertür war zu. Er klopfte, dann rief er nach ihr. Weil niemand antwortete, drückte er die Türklinke nach unten. Die Tür war nicht verschlossen.
    »Lulu?« rief er. »Ich bin’s, Harvey.«
    Sie war nicht da, aber erleichtert sah er, daß sie in ihrem Bett geschlafen und offensichtlich noch vor kurzem mit ihren Tieren gespielt hatte. Denn die Türen vom Puppenhaus standen offen, und überall am Boden sausten die Eidechsen herum.
    Trotzdem, etwas war seltsam: Irgendwo floß Wasser. Er ging dem Geräusch nach und kam ins Bad. Die Badewanne war kurz vor dem Überlaufen, und in den Pfützen auf den Fliesen lagen Lulus Kleider verstreut herum.
    »Haben Sie Lulu gesehen?« fragte er Mrs. Griffin, als er wieder unten war.
    »Nicht in den letzten paar Stunden«, antwortete sie. »Aber sie hat sich schon immer abgesondert.« Und dabei musterte Mrs.
    Griffin Harvey mit hartem Blick. »Ich an deiner Stelle, mein Kind, würde mich nicht allzuviel darum kümmern«, sagte sie.
    »Mr. Hood mag keine neugierigen Gäste.«
    »Ich habe mich doch nur gewundert, wo sie abgeblieben ist«, 101

    meinte Harvey.
    Mrs. Griffin runzelte die Stirn und drückte die Zunge gegen ihre blasse Wange, als ob sie sprechen wollte, sich aber nicht traute.
    »Egal«, fuhr Harvey fort, »ich glaube sowieso nicht, daß Mr.
    Hood überhaupt existiert.« Womit er Mrs. Griffin bewußt weiterreizte.
    »Jetzt paß aber bloß auf«, sagte sie. Ihre Stimme wurde noch tiefer, und sie runzelte noch stärker die Stirn. »So solltest du lieber nicht über Mr. Hood reden.«
    »Ich bin doch schon so lange hier, Tage und Tage«, sagte Harvey, und dabei dämmerte ihm, daß er in diesem Haus jedes Zeitgefühl verloren hatte. »Und ich habe ihn noch nicht einmal gesehen. Wo ist er denn?«
    Jetzt stürzte Mrs. Griffin mit erhobenen Händen auf Harvey zu, und einen Augenblick lang glaubte er, sie würde ihn schlagen. Aber statt dessen packte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn.
    »Bitte, Kind!« rief sie. »Gib dich zufrieden mit dem, was du weißt. Du bist hier, um dich für kurze Zeit zu amüsieren. Und glaube mir, mein Kind, es ist wirklich nur eine ganz kurze Zeit.
    Sie vergeht im Nu. Mein Gott, und wie rasch!«
    »Aber es sind doch erst ein paar Wochen«, sagte Harvey.
    »Ich werde hier nicht für immer bleiben.« Jetzt war er an der Reihe und starrte sie an. »Oder werde ich das?« fragte er.
    »Hör auf«, befahl sie ihm.
    »Sie denken, ich werde für immer hier bleiben?« rief er und schüttelte ihre Hände ab. »Was für ein Ort ist das, Mrs.
    Griffin? Eine Art Gefängnis?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Lügen Sie mich nicht an«, sagt er. »Das wäre dumm. Wir sind hier eingesperrt, stimmt’s?«
    Obwohl sie von Kopf bis Fuß vor Angst zitterte, wagte sie es jetzt, leicht mit dem Kopf zu nicken.
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    »Wir alle?« fragte er, und wieder nickte sie. »Sie auch?«
    »Ja«, flüsterte sie, »ich auch. Und es gibt keinen Ausweg.
    Glaube mir, wenn du noch einmal zu fliehen versuchst, wird Carna hinter dir her sein.«
    »Carna …«, sagte er. Er mußte an das Gespräch zwischen Jive und Marr denken, bei dem dieser Name gefallen war.
    »Er ist dort oben«, meinte Mrs. Griffin. »Auf dem Dach. Dort leben sie, alle vier: Rictus, Marr, Carna …«
    »Und Jive.«
    »Du weißt es ja.«
    »Bis auf Carna habe ich alle schon kennengelernt.«
    »Bete, daß es nie dazu kommt«, sagte Mrs. Griffin. »Und jetzt, Harvey, hör mir zu. Ich habe schon viele Kinder in diesem Haus kommen und gehen sehen – törichte, egoistische, nette und brave. Aber du, du bist eine der klügsten Seelen, die mir je unter die Augen gekommen ist, und ich möchte, daß du dir deinen Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machst.
    Nutze die Stunden gut, denn es sind weniger, als du denkst.«
    Harvey hörte ihr geduldig zu und, als sie fertig war, sagte er:
    »Trotzdem möchte ich noch immer Mr. Hood kennenlernen.«
    »Mr. Hood ist tot«,

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