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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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höllisch aufpassen. Ein falscher Schritt und man geht baden.«
    Er blinzelte Harvey fragend an. »Gehst du schwimmen?«
    »Manchmal, im Sommer«, antwortete Harvey und wollte unbedingt noch mal auf die Sache mit dem Fliegen zurückkommen.
    Aber Rictus lenkte die Unterhaltung in eine andere Richtung.
    »Hat man an solchen Tagen nicht manchmal das Gefühl«, sagte er, »als ob es nie wieder Sommer würde?«
    »Darauf kannst du wetten«, meinte Harvey.
    »Weißt du, ich habe dich schon aus einem Kilometer Entfernung stöhnen hören. Da habe ich mir gesagt: >Hier ist ein Kind, das dringend Ferien brauchte.‹« Er schaute auf die Uhr.
    »Das heißt, falls du gerade Zeit dafür hast.«
    »Zeit?«
    »Für einen Ausflug, mein Junge, für einen Ausflug! Junger Swick, dir fehlt ein Abenteuer. Irgendwo … jenseits von dieser Welt. «
    »Wie hast du mich aus einem Kilometer Entfernung stöhnen hören können?« wollte Harvey wissen.
    »Warum zerbrichst du dir darüber den Kopf? Ich habe dich eben gehört, und nur darauf kommt es doch an.«
    »Hängt das irgendwie mit Zauberei zusammen?«
    »Vielleicht.«
    12

    »Warum willst du es mir dann nicht sagen?«
    Rictus musterte Harvey durchdringend. »Ich glaube, du bist viel neugieriger, als dir guttut«, antwortete er, und sein Lächeln schrumpfte ein wenig. »Warum, darum. Aber wenn du dir nicht helfen lassen willst, bitte, mir ist es egal.«
    Er machte einen Schritt aufs Fenster zu. Noch immer drückte der Wind gegen die Scheibe, als ob er unbedingt wieder hereinkommen und seinen Passagier mitnehmen wollte.
    »Warte!« rief Harvey.
    »Worauf?«
    »Tut mir leid, ich werde keine Fragen mehr stellen.«
    Rictus, den Riegel schon in der Hand, hielt inne. »Wirklich?«
    »Großes Ehrenwort«, versprach Harvey. »Ich habe dir doch gesagt, daß es mir leid tut.«
    »In der Tat. In der Tat.« Rictus blinzelte in den Regen hinaus.
    »Ich kenne einen Ort«, sagte er, »wo jeden Tag die Sonne scheint und die Nächte voller Wunder sind.«
    »Kannst du mich dorthin bringen?«
    »Keine Fragen, mein Junge, so hatten wir es doch abge-macht.«
    »Ach ja, stimmt. Entschuldige.«
    »Glücklicherweise bin ich nicht nachtragend und werde deshalb vergessen, daß du geredet hast. Also paß auf: Wenn du möchtest, könnte ich mich mal erkundigen, ob noch Platz für einen weiteren Gast da ist.«
    »Das wäre toll.«
    »Aber ich kann nichts versprechen«, sagte Rictus, während er den Riegel zurückschob.
    »Verstanden.«
    Plötzlich drückte eine Windböe das Fenster sperrangelweit auf, und die Lampe schaukelte wild hin und her.
    »Halt nach mir Ausschau.« Rictus mußte gegen das Geheul von Regen und Wind anbrüllen.
    Harvey wollte ihn schon fragen, ob er recht bald wiederkäme, 13

    aber dann biß er sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge.
    »Keine Fragen, mein Junge!« rief Rictus. Der Wind blähte seinen Mantel wie einen schwarzen Ballon auf, und plötzlich wurde er über das Fensterbrett hinausgetrieben.
    »Fragen machen Kopfweh!« rief er über die Schulter, während er davonflog. »Mach deinen Mund zu und harre der Dinge, die da kommen werden!«
    Und damit trug ihn der Wind mit sich fort, und sein ballon-förmiger Mantel ging wie ein schwarzer Mond am regennassen Himmel auf.
    14

II
Der verborgene Weg

    H arvey erzählte weder seiner Mutter noch seinem Vater von dem seltsamen Besucher. Möglicherweise würden sie sonst Schlösser an die Fenster machen, um zu verhindern, daß Rictus noch einmal ins Haus käme, dachte er. Der Besuch sollte sein Geheimnis bleiben. Leider fingen damit die Schwierigkeiten erst richtig an. Denn nach ein paar Tagen kamen Harvey Zweifel, ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte. Vielleicht war er nur am Fenster eingeschlafen und hatte die Geschichte mit Rictus geträumt.
    Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf. »Halt nach mir Ausschau«, hatte Rictus gerufen, und genau das tat Harvey. Er verrenkte sich den Hals an seinem Zimmerfenster und starrte während der Schulstunden Löcher in die Luft. Sogar wenn er nachts im Bett lag, versuchte er, wenigstens mit einem Auge wachzubleiben. Aber Rictus ließ sich nicht blicken.
    Ungefähr eine Woche war seit seinem Besuch vergangen, und Harvey machte sich allmählich keine großen Hoffnungen mehr.
    Doch da wurde sein Aufpassen belohnt. Als er an einem nebligen Morgen zur Schule ging, hörte er über sich eine Stimme. Er blickte hoch und sah, wie Rictus mit aufgepluster-tem Mantel aus den Wolken herabschwebte. Der Anblick

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