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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wurde er. Auf den ersten Blick hatten die Steine ganz stabil ausgesehen, aber inzwischen hoben und senkten sie sich wie Wellen und schienen aus Nebel zu bestehen. Dennoch: Ein unüberwindliches Hindernis für neugierige Augen.
    »Es sieht wie eine Mauer aus«, antwortete Harvey, »aber es ist gar keine.«
    »Du bist ein hervorragender Beobachter«, antwortete Rictus bewundernd. »Die meisten Menschen sehen nur eine Sackgas-se, dann drehen sie um und nehmen einen anderen Weg.«
    »Aber wir nicht.«
    »Nein, wir nicht. Wir werden einfach weiter gehen. Weißt du auch, warum?«
    »Weil das Haus der Ferien auf der anderen Seite liegt?«
    »Was bist du doch für ein kluges Kind!« rief Rictus aus.
    »Hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Übrigens, bist du hungrig?«
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    »Schrecklich.«
    »Also, in dem Haus wartet eine Frau auf dich. Mrs. Griffin heißt sie. Und weißt du was, sie ist die tollste Köchin auf der ganzen Welt. Ich schwöre es beim Grab meines Schneiders. Sie kann dir alle deine Traumgerichte kochen. Du mußt sie nur darum bitten. Zum Beispiel ihre Teufelseier –« Er spitzte die Lippen. »Ein Gedicht.«
    »Aber ich sehe gar kein Tor«, sagte Harvey.
    »Das liegt daran, daß es gar keines gibt.«
    »Und wie sollen wir dann hineinkommen?«
    »Geh einfach weiter!«
    Halb aus Hunger und halb aus Neugier folgte Harvey den Anweisungen von Rictus. Als er nur noch drei Schritte von der Mauer entfernt war, schlüpfte ein seidenweicher, blütenduften-der Windhauch zwischen den glänzenden Steinen hindurch und streichelte seine Wangen wie ein Kuß. Nach dem langen, kalten Marsch tat ihm die Wärme gut, und er ging noch schneller. Als er an die Mauer kam, wollte er die Hand danach ausstrecken, aber die Nebelsteine schienen ihm entgegenzu-kommen. Ihre weichen, grauen Arme faßten ihn sanft an der Schulter und geleiteten ihn durch die Mauer.
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    Er schaute sich um, doch schon war die Straße, die er eben erst verlassen hatte, verschwunden – und mit ihr das graue Pflaster und die grauen Wolken. Unter seinen Füßen wuchs hohes Gras voller Blumen, über ihm glänzte ein blauer Sommerhimmel, und genau vor ihm lag mitten auf einer Anhöhe ein Haus, wie man es nur in Träumen findet.
    Da wartete er nicht mehr ab, ob Rictus ihm nachkam, und er zerbrach sich auch nicht mehr länger den Kopf darüber, wie das graue Untier namens Februar besiegt worden war und statt dessen dieser warme Tag seine Stelle eingenommen hatte. Mit einem lauten Lachen, auf das selbst Rictus stolz gewesen wäre, rannte er den Hügel hinauf, direkt in den Schatten des Traum-hauses.

III
Das Glück und der Wurm

    D as wäre wirklich eine tolle Sache, dachte Harvey, wenn man so etwas bauen könnte: Zuerst die Fundamente tief in die Erde treiben und anschließend Böden und Decken betonieren und die Wände hochziehen. Dann könnte man sagen: Wo vorher nichts war, habe ich ein Haus gebaut. Das wäre wirklich eine tolle Sache.
    Dabei wirkte das Gebäude ganz und gar nicht wie ein aufge-blasener Pfau. Weder hatte es Marmortreppen noch kannelierte Säulen, und doch war es ohne Zweifel ein stolzes Haus. Aber daran war ja auch nichts auszusetzen, hatte es doch allen Grund, stolz zu sein. Vier Stockwerke hoch ragte es empor und besaß mehr Fenster, als Harvey auf den ersten Blick zählen konnte. Unter einem breiten Vorbau führte eine großzügige Treppe direkt zu der geschnitzten Vordertür. Und als Krönung saß obenauf ein steiles Schieferdach mit prächtigen Schorn-steinen und Blitzableitern.
    Aber den höchsten Punkt bildeten weder die Schornsteine noch Blitzableiter, sondern eine riesige, kunstvoll geschmiede-te Wetterfahne. Harvey schaute noch staunend zu ihr empor, da hörte er, wie die Vordertür aufging und eine Stimme sagte:
    »Harvey Swick, so wahr ich lebe.«
    Er senkte den Blick, aber noch immer hatte er die weiße Silhouette der Wetterfahne vor Augen. Mitten auf der Veranda stand eine Frau, neben der seine Großmutter – die älteste Person, die er kannte – direkt jung gewirkt hätte. Eine Fülle hauchfeiner Haare, die an Spinnennetze erinnerten, umrahmte 26

    ein Gesicht wie ein aufgerolltes Spinnwebknäuel. Sie hatte winzige Augen, Lippen wie ein Strich und knotige Hände.
    Aber ihre Stimme klang melodiös, und ihre Worte hießen ihn willkommen.
    »Ich dachte schon, du hättest vielleicht beschlossen, doch nicht zu kommen«, sagte sie und hob einen Korb mit frischge-schnittenen Blumen auf, den sie auf der Treppe hatte stehen lassen.

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