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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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erinnerte ihn an ein überdimensionales Zuchtschwein.
    »Geht’s gut?« fragte Rictus beim Herunterschweben.
    »Allmählich habe ich schon gedacht, du wärst nur Einbildung«, antwortete Harvey. »Du weißt schon, so wie ein Traum.«
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    »Das passiert mir öfter«, meinte Rictus und grinste über beide Backen wie noch nie. »Besonders bei den Damen. Du bist ein Traum, der wahr wird, sagen sie dann.« Er zwinkerte. »Wie sollte ich da widersprechen? Gefallen dir meine Schuhe?«
    Harveys Blick fiel auf ein Paar leuchtend blaue Schuhe.
    Zugegeben, der Anblick war überwältigend. Und das sagte er dann auch.
    »Ein Geschenk von meinem Boß«, meinte Rictus. »Er ist ganz selig, daß du uns besuchen kommst. Also, bist du bereit?«
    »Nun ja …«
    »War’ schade, Zeit zu verlieren«, meinte Rictus, »denn vielleicht gibt’s schon morgen keinen freien Platz mehr für dich.«
    »Darf ich eine einzige Frage stellen?«
    »Ich dachte, wir hätten ausgemacht –«
    »Ich weiß. Nur eine.«
    »Na schön, eine einzige.«
    »Ist es weit weg von hier?«
    »Nö, gerade mal quer durch die Stadt.«
    »Also werde ich nur ein paar Schulstunden verpassen?«
    »Das sind bereits zwei Fragen«, sagte Rictus.
    »Nein, ich denke nur laut.«
    Rictus grunzte. »Schau mal«, sagte er, »ich bin nicht da, um dich mit Tralala und Hoppsassa zu überreden. Das überlasse ich meinem Freund Jive. Ich mach’s mit einem Lächeln. Ich lächle und sage: Komm mit mir ins Haus der Ferien. Und wenn die Leute dann nicht kommen wollen –« Er zuckte mit den Schultern. »Na, dann haben sie eben Pech gehabt.«
    Und damit drehte er Harvey den Rücken zu.
    »Warte!« protestierte Harvey. »Ich möchte ja kommen, aber bloß für kurze Zeit.«
    »Du kannst bleiben, so lange du willst«, sagte Rictus. »Oder auch so kurz. Ich möchte doch nur, daß du nicht mehr so bedrückt dreinschaust, sondern so .« Und er grinste noch 19

    breiter. »Ist das vielleicht ein Verbrechen?«
    »Nein«, antwortete Harvey, »sicher nicht. Ich bin ja froh, daß du mich gefunden hast. Ehrlich.«
    Und wenn er den ganzen Vormittagsunterricht verpassen würde? Na wenn schon, dachte er, würde ja doch kein großer Verlust sein. Auf ein, zwei Stunden am Nachmittag kam’s auch nicht an, wenn er nur gegen drei Uhr wieder zu Hause wäre.
    Vier Uhr ging auch noch. Jedoch unbedingt, bevor es dunkel würde.
    »Von mir aus kann’s losgehen«, sagte er zu Rictus. »Geh du voran.«
    M illsap war eine kleine Stadt. Harvey hatte sein ganzes Leben hier verbracht und im Laufe der Jahre jeden Winkel kennengelernt – hatte er zumindest gedacht. Aber schon bald lagen die bekannten Straßen hinter ihnen. Obwohl Rictus ein ziemliches Tempo vorlegte, merkte sich Harvey geistesgegenwärtig eine Reihe von markanten Punkten an ihrem Weg. Vielleicht würde er ja alleine nach Hause zurückfinden müssen. In einer Metzge-rei baumelten zwei Schweinsköpfe von den Fleischerhaken, neben einer Kirche lag ein Friedhof mit alten Grabsteinen, und das Reiterstandbild eines verstorbenen Generals war vom Hut bis zu den Steigbügeln voller Taubendreck. Diese und andere Dinge, die ihm auffielen, prägte er sich ein.
    Während sie so dahingingen, plauderte Rictus unaufhörlich über nichtssagende Dinge.
    »Ich hasse diesen Nebel! Ich hasse, hasse ihn!« sagte er.
    »Und heute nachmittag soll’s wieder regnen. Gott sei Dank werden wir das nicht mehr erleben …« Vom Thema Regen kam er auf den Zustand der Straßen. »Schau dir bloß diesen Dreck an, und das auf dem ganzen Pflaster! So eine Schande!
    Eine schöne Bescherung für meine Schuhe!«
    So ging das eine ganze Weile, also hörte Harvey schließlich 20

    gar nicht mehr hin. Insgeheim fragte er sich allmählich, wie weit es noch bis zu diesem Haus der Ferien wäre. Der Nebel machte ihn ganz fertig, und die Beine taten ihm weh. Wenn sie nicht bald da wären, würde er umkehren.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagte Rictus.
    »Wetten, daß nicht?«
    »Du denkst, alles sei nur ein Trick. Du denkst, der gute Rictus entführt dich ins Blaue und am Ende ist rein gar nichts.
    Stimmt’s?«
    »Kann schon sein.«
    »Na schön, mein Junge, ich habe eine Neuigkeit für dich.
    Schau mal nach oben.«
    Er streckte den Finger aus. Ganz in der Nähe erhob sich eine hohe Mauer, die so lang war, daß sie sich nach links und rechts im Nebel verlor.
    »Und was siehst du da?« fragte ihn Rictus.
    »Eine Mauer«, antwortete Harvey. Aber je länger er darauf starrte, um so unsicherer

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