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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Das wäre schade gewesen. Jetzt komm erst mal rein!
    Auf dem Tisch steht etwas zu essen. Du mußt ja halb verhun-gert sein.«
    »Aber ich kann nicht lange bleiben«, sagte Harvey.
    »Tu nur, was du tun möchtest«, kam die Antwort. »Übrigens, ich bin Mrs. Griffin.«
    »Ja, Rictus hat mir schon von Ihnen erzählt.«
    »Hoffentlich hat er dir nicht zu sehr die Ohren vollge-schwätzt. Am liebsten hört er sich nämlich selber reden. Nichts geht ihm über seine Stimme und sein Aussehen.«
    Inzwischen war Harvey die Eingangstreppe hochgestiegen, aber mitten vor der offenen Tür hielt er plötzlich inne. Er wußte, dies war ein entscheidender Augenblick, auch wenn er nicht hätte erklären können, warum.
    »Tritt ein«, forderte ihn Mrs. Griffin auf und strich sich ein spinnwebdünnes Haar von der zerfurchten Stirn. Aber Harvey zögerte noch immer. Vielleicht hätte er sogar kehrtgemacht und nie das Haus betreten, wenn er nicht drinnen einen Jungen hätte rufen hören:
    »Hab’ dich schon! Hab’ dich schon!« und darauf folgte schallendes Gelächter.
    »Wendell!« rief Mrs. Griffin. »Jagst du schon wieder die Katzen?«
    Daraufhin wurde das Gelächter noch lauter, und es klang so ungemein fröhlich, daß Harvey über die Türschwelle ins Haus trat, nur um das Gesicht zu sehen, das dahintersteckte.
    Leider war ihm nur ein kurzer Blick vergönnt. Einen Augen-27

    blick lang tauchte am anderen Ende der Diele ein verschmitztes Brillengesicht auf, dann schoß eine gefleckte Katze zwischen den Beinen des Jungen hindurch, und der rannte schon wieder schreiend und lachend hinter ihr drein.
    »Er ist wirklich ein verrückter Kerl«, meinte Mrs. Griffin,
    »aber die Katzen vergöttern ihn!«
    Drinnen wirkte das Haus noch aufregender als von außen.
    Selbst auf dem kurzen Weg zur Küche bekam Harvey eine Menge davon mit. Eines war klar: Dies war ein Ort wie geschaffen für Spiele, Verfolgungsjagden und Abenteuer. Es sah aus wie ein Labyrinth, in dem keine Tür der anderen glich.
    Es war ein Schatzhaus, in dem ein berühmter Pirat seine blutbefleckte Beute versteckt hatte. Ein Lagerplatz für die fliegenden Teppiche von Djinns und für Truhen, die lange vor der Sintflut versiegelt worden waren. Truhen, in denen die Eier längst ausgestorbener Tierarten ruhten und darauf warteten, daß die Sonnenglut sie ausbrütete.
    »Einfach perfekt!« murmelte Harvey vor sich hin.
    Aber Mrs. Griffin hatte ihn trotzdem verstanden. »Nichts ist perfekt«, antwortete sie.
    »Und wieso nicht?«
    »Weil die Zeit vergeht«, fuhr sie fort und starrte auf ihre abgeschnittenen Blumen. »Und alles wird früher oder später von Käfern und Würmern zerfressen.«
    Als Harvey das hörte, überlegte er, was wohl Mrs. Griffin so traurig gemacht hatte. Welchen Kummer hatte sie erlebt?
    »Tut mir leid«, sagte sie und überspielte ihre melancholische Stimmung mit einem kleinen Lächeln. »Schließlich bist du nicht hierhergekommen, um dir meine Jammerlitaneien anzuhören, sondern um dich zu amüsieren. Stimmt’s?«
    »Ich denke schon«, sagte Harvey.
    »Dann laß dich erst mal von mir mit ein paar Leckerbissen verwöhnen.«
    Harvey setzte sich an den Küchentisch, und binnen sechzig 28

    Sekunden hatte ihm Mrs. Griffin ein Dutzend Teller mit verschiedensten Gerichten vorgesetzt: Hamburger, Hot dogs und gebratene Hähnchen, Berge von Butterkartoffeln, Apfel-, Kirsch- und Schokoladenkuchen, Eis und Schlagsahne, Trauben, Mandarinen und einen Teller mit Früchten, die er nicht einmal dem Namen nach kannte.
    Mit großem Appetit fing Harvey zu essen an. Er verspeiste gerade sein zweites Stück Kuchen, da schlenderte ein sommer-sprossiges Mädchen mit langen, blonden Kraushaaren und großen, blau-grünen Augen herein.
    »Du mußt Harvey sein«, stellte sie fest.
    »Woher weißt du das?«
    »Wendell hat es mir verraten.«
    »Und woher hat er es gewußt?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat’s eben mitbekommen.
    Übrigens, ich bin Lulu.«
    »Bist du gerade erst angekommen?«
    »Nein, ich bin schon seit Ewigkeiten hier. Länger als Wendell, aber nicht so lange wie Mrs. Griffin. Niemand ist schon so lange hier wie sie. Stimmt’s?«
    »Fast«, antwortete Mrs. Griffin ein wenig geheimnisvoll.
    »Möchtest du etwas essen, mein Schatz?«
    Lulu schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Im Augenblick habe ich nicht sehr viel Appetit.«
    Trotzdem setzte sie sich Harvey gegenüber, steckte ihren Daumen in den Schokoladenkuchen und leckte ihn ab.
    »Wer hat dich hierher

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