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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Hauses hatte ihn in den Schlaf gewiegt –
    egal wie, jedenfalls waren ihm die Augen bereits zugefallen, kaum daß er den Kopf aufs Kissen gelegt hatte. Und er machte sie erst am nächsten Morgen wieder auf.
    32

IV
Tod zwischen
    den Jahreszeiten

    K urz nach der Morgendämmerung weckte ihn die Sonne. Ein kerzengerader, weißer Lichtstrahl lag auf seinen Lidern. Er fuhr hoch und mußte einen Augenblick überlegen, in was für einem Bett er lag und wo. Dann kehrte die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück, und Harvey stellte fest, daß er vom späten Nachmittag bis zum frühen Morgen durchgeschlafen hatte. Die Ruhe hatte ihm gutgetan. Er fühlte sich richtig schwungvoll, und so sprang er mit einem Freudenschrei aus dem Bett und zog sich an.
    Das Haus wirkte heute noch viel heimeliger als zuvor, und die Blumen, die Mrs. Griffin auf allen Tischen und Fensterbrettern verteilt hatte, leuchteten in den buntesten Farben. Die Vordertür stand offen. Harvey rutschte das blankgeputzte Treppengeländer hinunter und rannte auf die Veranda hinaus, um sich den Morgen von draußen anzuschauen.
    Doch da wartete eine Überraschung auf ihn. Die Bäume, die am vergangenen Nachmittag noch voller Laub gewesen waren, hatten ihr Blätterdach abgeworfen, und auf allen Ästen und Zweigen saßen neue, winzige Knospen. Es sah aus wie am ersten Frühlingstag.
    »Neuer Tag, neue Moneten«, rief Wendell, der gerade um die Hausecke geschlendert kam.
    »Was heißt denn das?« fragte Harvey.
    »Mein Vater pflegte sich immer so auszudrücken. Neuer Tag, neue Moneten. Mein Papa ist Bankier. Wendell Hamilton, der Zweite. Und ich, ich bin –«
    36

    »Wendell Hamilton, der Dritte.«
    »Woher weißt du das?«
    »Geraten. Ich bin übrigens Harvey.«
    »Ja, ich weiß. Magst du Baumhäuser?«
    »Ich hatte noch nie eines.«
    Wendell deutete zum höchsten Baum hinauf. Ganz oben zwischen den Ästen thronte eine Plattform mit einem halbferti-gen Haus darauf.
    »Hab’ dort oben schon seit Wochen rumgebastelt«, sagte Wendell, »aber allein schaffe ich es nicht. Willst du mir helfen?«
    »Klar, aber zuerst muß ich was essen.«
    »Na los, geh essen. Ich werd’ in der Nähe bleiben.«
    Harvey kehrte zurück ins Haus und traf dort Mrs. Griffin, die gerade ein fürstliches Frühstück vorbereitete. Sie hatte ein bißchen Milch auf dem Fußboden verschüttet, und eine Katze mit einem Schwanz wie ein Fragezeichen schleckte sie auf.
    »Ist das Naseweis?« fragte er.
    »Ja, richtig«, antwortete Mrs. Griffin liebevoll. »Das ist ein ganz kesser.«
    Naseweis schaute hoch, als ob er wüßte, daß von ihm die Rede war. Dann sprang er auf den Tisch und suchte zwischen den Tellern mit Pfannkuchen und Waffeln nach noch mehr Futter.
    »Darf er einfach alles tun, was er will?« fragte Harvey, während er zusah, wie der Kater mal hier, mal da herum-schnupperte. »Ich meine, bändigt ihn denn niemand?«
    »Ach, weißt du, irgend jemand überwacht uns ja schließlich alle, nicht wahr?« antwortete Mrs. Griffin. »Ob wir wollen oder nicht. Jetzt iß aber. Vor dir liegt eine aufregende Zeit.«
    Das ließ Harvey sich nicht zweimal sagen und stürzte sich mit noch größerem Appetit als am Vortag auf seine zweite Mahlzeit im Haus der Ferien. Dann rannt er hinaus, in den neuen Tag hinein.
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    Und was für ein Tag das war!
    Ein laues Lüftchen brachte den Duft von frischem, jungem Grün mit sich, und am makellos blauen Himmel segelten unzählige Vögel dahin. Mit den Händen in den Taschen bummelte er durchs Gras, als ob alles ihm gehören würde, so weit sein Auge reichte. Als er bei den Bäumen ankam, rief er Wendell zu:
    »Kann ich raufkommen?«
    »Nur wenn du schwindelfrei bist«, forderte ihn Wendell heraus.
    Die Leiter knackte beim Hinaufklettern, aber er erreichte die Plattform, ohne einmal eine Sprosse zu verfehlen. Wendell war beeindruckt.
    »Nicht schlecht für einen Neuankömmling«, sagte er. »Wir hatten schon zwei Kinder hier, die kamen nicht mal bis zur Hälfte.«
    »Wo sind sie nun?«
    »Wieder zu Hause«, schätze ich. »Hier kommen und gehen die Kinder, verstehst du?«
    Harvey blinzelte durch die Zweige hindurch. Jede Knospe war kurz vor dem Aufplatzen.
    »Man sieht nicht sehr viel, oder?« sagte er. »Ich meine, von der Stadt sieht man gar nichts.«
    »Wen juckt’s?« antwortete Wendell. »Draußen ist’s eh nur grau.«
    »Aber hier drin scheint die Sonne«, sagte Harvey und starrte auf die Wand aus Nebelsteinen, die Grundstück und Haus von der Welt

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