Das Haus der verschwundenen Jahre
eingeladen?« fragte sie.
»Ein Mann namens Rictus.«
»Ah ja. Das ist der mit dem Grinsemund, oder?«
»Genau.«
»Er hat noch eine Schwester und zwei Brüder«, fuhr sie fort.
»Bist du ihnen schon mal begegnet?«
»Allen nicht«, gab Lulu zu. »Sie bleiben am liebsten unter sich. Aber früher oder später wirst du schon einen oder auch 29
zwei von ihnen kennenlernen.«
»Ich … ich glaube nicht, daß ich bleiben werde«, sagte Harvey. »Ich meine, meine Eltern wissen ja nicht einmal, daß ich hier bin.«
»Na klar wissen sie’s«, antwortete Lulu. »Sie haben dir nur nichts davon erzählt.« Dieser Satz machte Harvey unsicher, und das sagte er dann auch. »Ruf deine Eltern doch einfach an«, schlug Lulu vor, »und frag sie.«
»Ja, geht das denn?« fragte Harvey verdutzt.
»Natürlich«, antwortete Mrs. Griffin. »Das Telefon steht in der Diele.«
Harvey nahm noch einen Löffel Eiscreme, dann ging er zum Telefon und wählte. Zuerst war in der Leitung nur ein Pfeifton zu hören, so als ob der Wind durch die Drähte streichen würde.
Doch dann wurde die Verbindung besser, und er hörte, wie seine Mutter sagte:
»Hallo. Wer ist da?«
»Bevor du anfängst, zu schreien«, setzte er an.
»Oh, hallo, Liebes«, beschwichtigte ihn seine Mutter liebevoll. »Bist du gut angekommen?«
»Angekommen?«
»Du bist doch hoffentlich im Haus der Ferien.«
»Ja, bin ich, aber –«
»Ach, gut. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du könntest dich verlaufen haben. Gefällt’s dir dort?«
»Du wußtest, daß ich hierher kommen würde?« fragte Harvey und sah dabei Lulu in die Augen.
Ich hab’s dir doch gesagt, sagte diese stumm.
»Natürlich wußten wir Bescheid«, fuhr seine Mama fort.
»Wir hatten doch Mr. Rictus darum gebeten, dir den Ort zu zeigen. Mein armes Lämmchen, du hast immer so traurig dreingeschaut, und deshalb fanden wir, daß dir ein bißchen Spaß guttäte.«
»Ehrlich?« fragte Harvey. Diese Wendung der Ereignisse 30
verblüffte ihn.
»Wir möchten, daß du es dir gutgehen läßt«, fuhr seine Mama fort. »Und daß du so lange bleibst, wie du möchtest.«
»Und die Schule?« fragte er.
»Ein bißchen Ferien hast du dir redlich verdient«, kam die Antwort. »Zerbrich dir darüber bloß nicht den Kopf, sondern amüsier dich gut.«
»Das werde ich, Mama.«
»Lebe wohl, mein Liebes.«
»Leb’ wohl.«
Nach dieser Unterhaltung konnte Harvey nur noch verwun-dert den Kopf schütteln.
»Du hattest recht«, sagte er zu Lulu. »Sie haben alles für mich arrangiert.«
»Also mußt du auch keine Schuldgefühle haben«, meinte Lulu. »Na schön, schätzungsweise werde ich dich später noch hier antreffen. Hm?« Und damit schlenderte sie wieder davon.
»Wenn du mit dem Essen fertig bist«, sagte Mrs. Griffin,
»zeige ich dir dein Zimmer.«
»Das wäre sehr nett.«
Wie es sich gehört, begleitete sie Harvey die Treppe hinauf.
Beim ersten Treppenabsatz aalte sich eine Katze genüßlich auf dem sonnenüberfluteten Fensterbrett. Ihr Fell hatte die Farbe eines wolkenlosen Himmels.
»Das ist Blaufellchen«, sagte Mrs. Griffin. »Sausewind hast du mit Wendell spielen sehen. Keine Ahnung, wo Naseweis steckt, aber er wird dich schon noch aufstöbern. Er mag neue Gäste.«
»Kommen denn viele Leute hierher?«
»Nur Kinder. Ganz besondere Kinder, wie du und Lulu und Wendell. Mr. Hood möchte nicht jeden hier aufnehmen.«
»Wer ist Mr. Hood?«
»Der Mann, der das Haus der Ferien erbaut hat«, antwortete Mrs. Griffin.
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»Werde ich ihn auch kennenlernen?«
Diese Frage schien Mrs. Griffin nicht ganz recht zu sein.
»Vielleicht«, sagte sie und wandte den Blick ab. »Allerdings lebt er sehr zurückgezogen.«
Inzwischen hatten sie das Obergeschoß erreicht, und Mrs.
Griff in führte Harvey an einer Reihe von Ölporträts vorbei zu einem Raum im hinteren Teil des Hauses. Von hier aus konnte man in einen Obstgarten sehen. Die milde Luft trug den Geruch von reifen Äpfeln ins Zimmer.
»Du siehst müde aus, mein Schatz«, sagte Mrs. Griffin.
»Vielleicht legst du dich ein bißchen hin.«
Eigentlich konnte Harvey Nachmittagsschläfchen nicht ausstehen. Das erinnerte ihn zu sehr an Zeiten, als er Grippe oder Masern gehabt hatte. Aber das Kissen sah ungemein kühl und einladend aus. Und so entschied er sich doch für ein Nickerchen, nachdem sich Mrs. Griffin verabschiedet hatte.
Nur für ein paar Minuten.
Vielleicht war er aber müder, als er geglaubt hatte, oder die behagliche Ruhe des
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