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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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kann mich nicht einmal richtig sehen, dachte Harvey.
    Armer, alter Mann.
    Aber ehe sich der Mann die Brille auf die Nase klemmen konnte, erschien hinter ihm seine Frau. Bei ihrem Anblick wäre Harvey beinahe in die Knie gegangen.
    Alt war sie, diese Frau, und ihre Haare waren fast so farblos wie die ihres Mannes und ihr Gesicht sogar noch faltiger und kummervoller. Und doch kannte Harvey dieses Gesicht besser als jedes andere auf der Welt. Es war das erste Gesicht, das er geliebt hatte. Es war – seine Mutter.
    »Mama?« murmelte er.
    Die Frau hielt inne und starrte durch die offene Tür den Jungen auf der Treppe an. Dann schossen ihr Tränen in die Augen und sie brachte kaum das nächste Wort heraus.
    »Harvey?«
    »Mama? … Mama, du bist es doch, oder?«
    Inzwischen hatte der Mann seine Brille aufgesetzt und starrte mit aufgerissenen Augen hindurch.
    »Das ist unmöglich«, erklärte er, »das kann nicht Harvey sein.«
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    »Aber er ist es«, sagte seine Frau, »es ist unser Harvey. Er ist heimgekommen.«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Nach all den Jahren?« sagte er. »Er müßte inzwischen längst groß sein, ein erwachsener Mann. Aber das hier ist nur ein Junge.«
    »Er ist es, wenn ich dir’s sage.«
    »Nein!« antwortete der Mann nun ärgerlich. »Jemand spielt uns einen Streich und versucht, uns die Herzen zu brechen. Als ob sie nicht schon gebrochen genug wären.«
    Er wollte die Tür zuwerfen, aber Harveys Mutter hielt sie fest.
    »Schau ihn doch an«, bat sie. »Schau dir seine Kleider an.
    Genau das hatte er in der Nacht an, als er uns verließ.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Glaubst du denn, ich würde mich nicht mehr daran erinnern?«
    »Aber das war vor einunddreißig Jahren«, sagte Harveys Vater und starrte noch immer den Jungen auf der Treppe an.
    »Das kann nicht … kann nicht sein …« Er stockte, und langsam machte sich Erkenntnis auf seinem Gesicht breit. »O
    mein Gott«, sagte er und brachte nur noch ein heiseres Flüstern heraus. »Er ist es, ja?«
    »Ich hab’s dir doch gesagt«, antwortete seine Frau.
    »Bist du ein Geist?« fragte er Harvey.
    »Um Himmels willen«, rief Harveys Mutter, »er ist doch kein Geist!« Sie schlüpfte an ihrem Mann vorbei auf die Treppe hinaus. »Ich weiß zwar nicht, wie es möglich ist, aber das ist mir auch egal«, sagte sie und breitete die Arme weit aus. »Ich weiß nur, daß unser kleiner Junge wieder zu uns nach Hause gekommen ist.«
    Harvey konnte nicht sprechen. Zu viele Tränen brannten in Hals, Nase und Augen. Er konnte nur noch seiner Mutter in die Arme taumeln. Es war ein wunderbares Gefühl, als ihre Hände seine Haare streichelten und ihre Finger ihm die Wangen 127

    abwischten.
    »Ach, Harvey, Harvey, Harvey«, schluchzte sie. »Wir dachten schon, wir würden dich nie wiedersehen.« Wieder und wieder küßte sie ihn. »Wir dachten schon, du wärst für immer verschwunden.«
    »Wie ist das möglich?« wollte sein Vater noch immer wissen.
    »Ich habe immer darum gebetet«, sagte seine Mutter.
    Harvey wußte eine andere Antwort, aber er sprach sie nicht aus. Als er seine Mutter so verändert und sorgenvoll erblickt hatte, war ihm gleich klar geworden, welch schrecklichen Streich Hoods Haus ihnen allen gespielt hatte. Für jeden Tag, den er dort verbracht hatte, war in der echten Welt ein ganzes Jahr vergangen. Während er in der lauen Frühlingsluft gespielt hatte, waren jeden Morgen Monate vergangen, und ebenso wenn er nachmittags faul in der Sommersonne lag. Und auch die gespenstische Dämmerung, die ihm immer so kurz erschienen war, hatte Monate gedauert, ebenso wie die Winterabende mit Weihnachten, Schnee und Geschenken. Das alles war so rasch vergangen. Und obwohl er selbst nur einen Monat älter geworden war, hatten seine Eltern einunddreißig kummervolle Jahre verbracht mit dem Gedanken, daß ihr Junge für immer verschwunden war.
    Und beinahe wäre es auch so gewesen. Wenn er in dem Haus der Illusionen geblieben wäre und sich weiter von den billigen Vergnügungen hätte ablenken lassen, wäre hier draußen in der wahren Welt ein ganzes Leben vorbeigegangen, und dann hätte seine Seele Hood gehört. Er wäre einer von den Fischen geworden, die im See ihre Kreise zogen, herum und herum und herum. Bei dem Gedanken überlief ihn eine Gänsehaut.
    »Du frierst ja, mein Schatz«, sagte seine Mutter. »Wir müssen dich hineinbringen.«
    Da mußte er heftig schniefen und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab.
    »Ich bin

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