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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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so müde«, sagte er.
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    »Ich werde dir sofort ein Bett herrichten.«
    »Nein«, antwortete Harvey. »Bevor ich schlafen gehe, möch-te ich euch erzählen, was passiert ist. Es ist eine lange Geschichte. Einunddreißig Jahre lang.«
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XV
Neue Alpträume

    A ber die Geschichte war schwieriger zu erzählen, als er gedacht hatte. Einige Dinge standen ihm ganz deutlich vor Augen – der erste Besuch von Rictus, der Untergang der Arche, seine und Wendells Flucht –, aber an vieles andere konnte er sich nicht mehr so recht erinnern. Es war, als ob sich der Nebel, durch den er gewandert war, in seinem Kopf festgesetzt und über das Haus und alles, was damit zusammenhing, einen Schleier gelegt hätte.
    »Ich weiß noch, daß ich euch zwei- oder dreimal angerufen habe«, sagte er.
    »Aber du hast nicht mit uns gesprochen, Liebes«, antwortete seine Mutter.
    »Dann war das auch nur ein Trick«, sagte Harvey. »Ich hätte es wissen müssen.«
    »Aber wer hat hinter all diesen Tricks gesteckt?« wollte sein Vater wissen. »Wenn es dieses Haus tatsächlich gibt – ich betone, wenn –, dann hat dich der unbekannte Besitzer gekid-nappt und irgendwie daran gehindert, erwachsen zu werden.
    Vielleicht hat er dich eingefroren –«
    »Nein«, sagte Harvey. »Dort war es immer warm. Außer natürlich, wenn es schneite.«
    »Es muß aber irgendeine vernünftige Erklärung dafür geben.«
    »Die gibt es«, entgegnete Harvey. »Alles war Zauberei!«
    Sein Vater schüttelte den Kopf und meinte: »Das ist die Antwort eines Kindes, aber ich bin kein Kind mehr.«
    »Und ich weiß, was ich weiß«, sagte Harvey bestimmt.
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    »Aber das ist nicht allzuviel, Liebes«, sagte seine Mutter.
    »Wenn ich mich doch an mehr erinnern könnte.«
    Sie legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern und sagte:
    »Mach dir nichts draus, wir werden uns darüber unterhalten, wenn du ausgeruht bist.«
    »Würdest du das Haus wiederfinden?« fragte ihn sein Vater.
    »Ja«, gab Harvey zur Antwort, obwohl es ihm schon bei dem Gedanken, dorthin zurückzukehren, kalt den Rücken hinunterlief.
    »Dann werden wir es suchen.«
    »Ich möchte nicht, daß er wieder dahin geht«, protestierte seine Mutter.
    »Wir müssen sicher sein, daß dieser Ort existiert, bevor wir die Sache der Polizei erzählen. Das verstehst du doch, mein Sohn, oder?«
    Harvey nickte. »Ich weiß, es klingt, als ob ich die Geschichte erfunden hätte, aber so ist es nicht. Ich schwöre, es ist wahr.«
    »Komm mit, mein Schatz«, sagte seine Mutter. »Leider hat sich dein Zimmer etwas verändert, aber gemütlich ist es noch immer. Jahrelang habe ich es so gelassen, wie du es verlassen hast, weil ich hoffte, du würdest wieder nach Hause finden.
    Doch dann wurde mir klar, daß du ein erwachsener Mann wärest, wenn du tatsächlich jemals zurückkommen würdest.
    Und dann hättest du sicher kein Interesse mehr an Kanonen-booten und Papageien. Also ließen wir den Dekorateur kommen, und jetzt sieht es ganz anders aus.«
    »Das macht mir nichts aus«, sagte Harvey. »Es ist mein Zuhause, und nur das interessiert mich.«
    W ährend er am frühen Nachmittag noch immer in seinem alten Zimmer schlief, fing es an zu regnen: Ein harter Märzre-gen prasselte gegen das Fenster und trommelte aufs Blech. Das Geräusch weckte ihn, und er setzte sich im Bett auf. Seine 133

    Nackenhaare sträubten sich, und da wußte er, daß er von Lulu geträumt hatte. Von der armen, verlorenen Lulu und wie sie ihren unförmigen Körper durchs Gebüsch geschleppt hatte und dabei mit ihrer Fischflosse die Tiere aus der Arche festhielt, die sie aus dem Schlamm geholt hatte.
    Der Gedanke an ihr Unglück war unerträglich. Wie könnte er je das Wissen ertragen, daß sie für immer Hoods Gefangene war, und gleichzeitig darauf hoffen, daß er sich wieder in jener Welt einleben würde, in die er zurückgekehrt war?
    »Ich werde dich finden«, murmelte er vor sich hin. »Das werde ich, ich schwör’s …«
    Dann legte er sich wieder hin und lauschte dem Geräusch des Regens, bis ihn der Schlaf übermannte.
    Die Reisen und die schockierenden Erlebnisse hatten ihn so erschöpft, daß er erst am nächsten Morgen aufwachte. Der Regen hatte aufgehört. Jetzt war es Zeit, Pläne zu schmieden.
    »Ich habe einen Stadtplan von ganz Millsap gekauft«, sagte sein Vater, faltete die Karte auseinander und breitete sie auf dem Küchentisch aus. »Hier steht unser Haus.« Er hatte die Stelle bereits mit einem Kreuz markiert. »Nun, kannst

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