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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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erwiderte Harvey. Er war da nicht so sicher.
    Er fühlte sich verändert. Das Abenteuer hatte ihn gezeichnet.
    »Ob wir uns wohl in ein paar Wochen überhaupt noch daran erinnern werden, daß wir einmal dort waren?«
    »Ach, ich werde mich schon erinnern«, sagte Harvey. »Ich habe ja ein paar Andenken bekommen.«
    Suchend wühlte er in seinen Taschen nach den Figuren aus der Arche. Doch als er sie herauszog, spürte er, wie sie zerfielen. Das war ihr Tribut an die echte Welt.
    »Alles Illusion«, murmelte er, während sie zu Staub zerfielen und ihm zwischen den Fingern zerrannen.
    »Wen juckt’s?« meinte Wendell. »Es wird Zeit, heimzuge-hen. Und das ist garantiert keine Illusion.«
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XIV
Versäumte Zeit

    B is zur Stadtmitte brauchten die beiden Jungen eine Stunde.
    Da trennten sich ihre Wege, weil sie in entgegengesetzter Richtung wohnten. Aber zuvor tauschten sie ihre Adressen aus.
    Außerdem versprachen sie, sich in ein bis zwei Tagen miteinander in Verbindung zu setzen, weil es nötig sein könnte, anderen die Glaubwürdigkeit ihrer Berichte über das Haus der Ferien zu bestätigen. Es würde nicht leicht werden, die Leute von dem zu überzeugen, was sie erlebt hatten. Vielleicht würde es ihnen eher gelingen, wenn sie beide dieselbe Geschichte erzählten.
    »Ich weiß, was du dort drinnen gemacht hast«, sagte Wendell, kurz bevor sie sich trennten. »Du hast mir das Leben gerettet.«
    »Du hättest für mich das gleiche getan«, erwiderte Harvey.
    Wendell schaute zweifelnd drein und meinte dann ein wenig beschämt: »Ich hätte es vielleicht gewollt, aber ich war noch nie sehr tapfer.«
    »Wir sind gemeinsam geflohen«, sagte Harvey, »und ohne dich hätte ich’s nicht geschafft.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich.«
    Daraufhin hellte sich Wendells Miene auf. »Jaa«, sagte er,
    »schätze mal, das stimmt. Na denn … bis bald.«
    Und damit ging jeder seines Weges.
    B is Tagesanbruch war es noch ein paar Stunden, und die Straßen waren praktisch menschenleer. Der Heimweg verwan-124

    delte sich für Harvey in einen langen, einsamen Marsch. Er war müde und ein wenig traurig, weil er Wendell Lebewohl hatte sagen müssen. Aber der Gedanke an die Begrüßung, die ihn zu Hause erwartete, verlieh seinen Schuhen Flügel.
    Mehrmals glaubte er, sich verlaufen zu haben. Die Straßen, die er überquerte, sahen so fremd aus. Ein Viertel war besonders vornehm. Die Häuser und die davor geparkten Autos waren das Eleganteste, was er je im Leben gesehen hatte. Dafür war ein anderes Viertel praktisch Niemandsland, die Häuser halbe Ruinen und die Straßen voller Abfall. Aber sein Orientierungssinn leistete ihm gute Dienste. Gerade als es im Osten zu dämmern anfing und die Vögel in den Bäumen zu zwitschern begannen, bog er in seine Straße ein. Trotz seiner müden Beine raffte er sich aus Vorfreude zu einem Endspurt auf, und dann stand er schwer atmend auf der Haustreppe und wollte nur noch seinen Eltern in die Arme fallen.
    Er klopfte an die Tür. Zuerst war aus dem Haus kein Laut zu vernehmen, aber in Anbetracht der Tageszeit überraschte ihn das nicht. Er klopfte noch einmal, und dann noch einmal.
    Endlich ging das Licht an, und er hörte, wie sich jemand der Tür näherte.
    »Wer ist da?« fragte sein Vater hinter der verschlossenen Tür.
    »Wissen Sie denn, wie spät es ist?«
    »Ich bin’s«, sagte Harvey.
    Daraufhin wurden die Riegel lautstark zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich einen Spalt.
    »Wer ist Ich ?« fragte der Mann und blinzelte zu ihm heraus.
    Eigentlich sah er ganz freundlich aus, dachte Harvey, doch sein Vater war er nicht. Dieser Mann hier war viel älter, hatte fast weiße Haare und ein schmales Gesicht. Sein Schnurrbart war schlecht geschnitten und seine Stirn von Sorgenfalten zerfurcht.
    »Was willst du?« fragte er.
    Aber noch ehe Harvey antworten konnte, rief eine Frauen-125

    stimme:
    »Komm von der Tür weg.«
    Harvey konnte zwar die Frau nicht sehen, dafür aber einen kurzen Moment lang die Tapete in der Diele und die Bilder an den Wänden. Erleichtert sah er, daß dies gar nicht das richtige Haus war. Offensichtlich war ihm ein Fehler unterlaufen und er hatte an die falsche Tür geklopft.
    »Entschuldigung«, sagte er und trat zurück. »Ich wollte Sie nicht wecken.«
    »Wen suchst du denn?« wollte der Mann wissen und öffnete die Tür ein wenig mehr. »Bist du eines von den Smith-Kindern?«
    Jetzt griff er in die Tasche seines Morgenmantels und zog eine Brille hervor.
    Er

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