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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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du dich an irgendwelche Straßennamen in der Nähe von Hoods Haus erinnern?«
    Harvey schüttelte den Kopf und sagte: »Da war ich doch viel zu sehr mit meiner Flucht beschäftigt.«
    »Hast du denn irgendwelche auffälligen Gebäude bemerkt?«
    »Es war dunkel und hat geregnet.«
    »Also müssen wir uns auf den Zufall verlassen.«
    »Wir werden es finden«, sagte Harvey. »Und wenn’s die ganze Woche dauert.«
    A ber das war leichter gesagt als getan. Über drei Jahrzehnte waren vergangen, seit er zum ersten Mal mit Rictus durch die Stadt gelaufen war. Unzählige Dinge hatten sich verändert.
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    Neue Einkaufszentren waren entstanden, aber auch neue Slums. Durch alle Straßen fuhren neue Autos, und darüber flogen unbekannte Flugzeuge. So vieles irritierte Harvey und lenkte ihn von der richtigen Spur ab.
    »Ich weiß nicht mehr, welche Richtung stimmt«, gestand er, nachdem sie einen halben Tag lang gesucht hatten. »Nichts ist mehr so wie in meiner Erinnerung.«
    »Wir machen weiter«, sagte sein Vater, »dann wird sich schon alles aufklären.«
    Es sollte jedoch anders kommen. Den ganzen restlichen Tag wanderten sie umher und hofften, irgend etwas würde eine Erinnerung auslösen, aber es blieb ein frustrierendes Unterfan-gen. Ab und zu rief Harvey auf einem Platz oder einer Straße aus:
    »Vielleicht ist es die«, und dann liefen sie in die eine oder andere Richtung. Aber schon ein paar Straßen weiter mußten sie sich eingestehen, daß die Spur ins Leere führte.
    An jenem Abend quetschte ihn sein Vater erneut aus.
    »Wenn dir doch nur wieder einfiele, wie das Haus aussah«, sagte er, »dann könnte ich es den Leuten beschreiben.«
    »Ich weiß nur noch, daß es groß war – und alt. Ganz sicher sehr alt.«
    »Könntest du es denn zeichnen?«
    »Ich könnte es versuchen.«
    Und das tat er dann auch. Obwohl er kein großer Künstler war, hatte seine Hand offensichtlich ein besseres Gedächtnis als sein Kopf. Denn nach einer halben Stunde hatte er eine ziemlich detaillierte Zeichnung des Hauses fertig. Sein Vater war erfreut.
    »Die werden wir morgen mitnehmen«, sagte er. »Vielleicht erkennt es jemand wieder.«
    135

    Aber der zweite Tag verlief genauso frustrierend wie der erste. Niemand kannte das Haus, das Harvey gezeichnet hatte, und auch keines, das ihm nur entfernt ähnlich sah. Am Ende des Nachmittags verlor Harveys Vater allmählich die Geduld.
    »Es hat keinen Sinn!« rief er. »Ich habe schon mindestens fünfhundert Leute gefragt und keiner – kein einziger – hat es auch nur annähernd wiedererkannt.«
    »Das überrascht mich gar nicht«, meinte Harvey. »Ich glaube nicht, daß außer Wendell und mir schon jemand fliehen konnte, der das Haus gesehen hat.«
    »Wir sollten das alles einmal der Polizei erzählen«, schlug seine Mutter vor, »und die Geschichte ihnen überlassen.«
    »Und was sollen wir denen erzählen?« fragte sein Vater und wurde dabei etwas laut. »Vielleicht daß wir glauben, da draußen gebe es ein Haus, das sich hinter einer Nebelwand versteckt und durch Zauberei Kinder stiehlt? Das ist ja lächerlich!«
    »Beruhige dich, beruhige dich«, meinte Harveys Mutter.
    »Wir werden uns nach dem Essen weiter darüber unterhalten.«
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    Sie kehrten heim, aßen und diskutierten das ganze Problem dann noch einmal. Aber Lösungen fanden sie keine. Mr. Hood hatte seine Fallen im Laufe der Jahre sehr sorgfältig aufgestellt, um sich vor den Gesetzen der echten Welt zu schützen. Die Nebelgebilde seiner Illusionen waren sein Schutz, und vermutlich hatte er dahinter bereits wieder Ersatz für Harvey und Wendell gefunden, zwei neue, ahnungslose Gefangene. Es sah so aus, als würden seine bösen Taten nie enden und für immer unentdeckt und unbestraft bleiben.
    Am folgenden Tag gab Harveys Vater eine Erklärung ab.
    »Dieses Suchen bringt uns nicht weiter«, sagte er. »Also werden wir damit aufhören.«
    »Willst du denn zur Polizei gehen?« fragte ihn seine Frau.
    »Ja, und die wollen dann sicher, daß ihnen Harvey alles erzählt, was er weiß. Das wird nicht einfach, mein Sohn.«
    »Sie werden mir nicht glauben«, sagte Harvey.
    »Deshalb werde ich mich zuerst mit ihnen unterhalten«, entgegnete sein Vater. »Ich werde schon jemanden finden, der mir zuhört.«
    Kurz nach dem Frühstück ging er mit einem bekümmerten Gesichtsausdruck fort.
    »Es ist alles meine Schuld«, sagte Harvey zu seiner Mutter.
    »Nur weil mir langweilig war, haben wir die schöne, gemein-same Zeit

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