Das Haus der verschwundenen Jahre
denken.«
»Harvey? Schau mal.«
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Wendell deutete nach vorne. Harvey erkannte die Straße auf den ersten Blick. Vor einunddreißig Jahren hatte er hier mit Rictus gestanden und zugehört, wie ihm dieser verführerisch von dem schönen Ort auf der anderen Seite der Mauer, die vor ihnen lag, vorschwärmte.
»Das wär’s dann«, sagte Harvey.
Seltsamerweise hatte er keine Angst, obwohl ihm klar war, daß sie sich geradewegs in die Arme ihres Feindes zurückbe-gaben. Es war immer noch besser, sich jetzt Hood und seinen Illusionen zu stellen, als den Rest seines Lebens über Lulu nachzugrübeln und seinen verlorenen Jahren nachzutrauern.
»Bist du bereit?« fragte er Wendell.
»Bevor wir gehen«, erwiderte sein Freund, »könnten wir da wenigstens eine Sache klären? Wenn das ganze Haus tatsächlich nur eine Illusion ist, warum haben wir dann die Kälte gespürt? Und warum bin ich dicker geworden, wenn ich Mrs.
Griffins Kuchen gegessen habe, und –«
»Ich weiß nicht«, unterbrach ihn Harvey. Zweifel kroch ihm wie ein kalter Finger am Rückgrat hoch. »Ich kann nicht erklären, wie Hoods Zauberei wirkt. Ich weiß nur, daß er all die Jahre gestohlen und selber gefressen hat.«
»Gefressen?«
»Jaaa, wie … wie … wie ein Vampir.«
Es war das erste Mal, daß Harvey an Hood in dieser Form gedacht hatte, aber ganz instinktiv schien es zu passen. Blut war gleichbedeutend mit Leben, und mit Leben hatte sich Hood ja gemästet. Er mußte ein Vampir sein, gewiß. Vielleicht ein König der Vampire.
»Sollten wir dann nicht besser einen Pfahl oder Weihwasser mitnehmen oder sonst so etwas?«
»Das gibt’s doch nur in Schauergeschichten«, sagte Harvey.
»Aber wenn er uns verfolgt …«
»Dann kämpfen wir.«
»Womit?«
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Harvey zuckte mit den Schultern. Tatsächlich wußte auch er keine Antwort. Aber ihm war klar, daß in dem bevorstehenden Kampf weder Kreuze noch Gebete viel ausrichten würden.
»Schluß mit dem Gerede«, sagte er zu Wendell. »Wenn du nicht mitkommen willst, dann laß es.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Gut«, sagte Harvey und ging auf den Nebel zu.
Wendell folgte ihm dicht auf den Fersen, und gerade als Harvey die Wand betreten wollte, packte er seinen Freund fest am Ärmel. Und so gingen sie genauso hinein, wie sie heraus-gegangen waren: gemeinsam.
Der Nebel umschloß sie wie ein nasses Tuch und preßte sich so fest gegen ihre Gesichter, daß Harvey beinahe schon glaubte, er wolle sie ersticken. Aber der Nebel wollte nur sichergehen, daß sie ihre Absicht nicht wieder änderten. Einen Augenblick später lief ein Zittern durch seine Falten, und er spuckte sie auf der anderen Seite wieder aus.
In Hoods Königreich war gerade Hochsommer: die träge Jahreszeit. Auf der anderen Seite des Nebels hatten Regenwol-ken die Sonne verborgen, aber hier strahlte sie auf das Haus und auf alles, was ringsherum gedieh. Die Bäume wiegten sich in einer milden Brise, und alles glänzte wie frisch gestrichen: die Türen und Fenster, die Veranda und die Kamine.
Vom Dachvorsprung zwitscherten Willkommenslieder, aus der Küche duftete es verlockend, und durch die offene Tür hieß sie ein Lachen willkommen. Willkommen, überall nur herzlich willkommen.
»Ich hatte ganz vergessen …« murmelte Wendell.
»Was hattest du vergessen?«
»Wie … wunderschön es ist.«
»Trau ihm nicht«, riet Harvey. »Es ist alles nur Illusion, denk daran. Alles.«
Wendell gab keine Antwort. Statt dessen wanderte er zu den Bäumen hinüber. Die honigduftende Brise stupste ihn, als ob 144
sie ihn hochlüpfen wollte. Und er leistete keinen Widerstand, sondern ließ sich von ihr treiben, mitten in den lichten Schatten hinein.
»Wendell!« rief Harvey und rannte ihm über die Wiese nach.
»Wir müssen zusammenbleiben.«
»Ich hatte das Baumhaus ganz vergessen«, sagte Wendell träumerisch und starrte in das Blätterdach hinauf. »Weißt du noch? Wir hatten so viel Spaß dort oben.«
»Nein«, sagte Harvey. Er war entschlossen, sich nicht durch die Vergangenheit von seiner Aufgabe ablenken zu lassen. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Doch, kannst du wohl«, sagte Wendell und lächelte über beide Ohren. »Wir haben doch dort oben so geschuftet. Ich werde mal raufgehen und nachschauen, wie’s steht.«
Harvey packte ihn am Arm.
»Nein, das wirst du nicht.«
»Doch, werde ich wohl«, schnauzte er zurück und entwand sich Harveys Griff. »Ich kann tun, was ich will. Schließlich bin ich nicht dein
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