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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Illusionen.«
    Rictus folgte ihnen und kicherte dabei wie verrückt.
    »Was ist denn so komisch?« fragte Harvey, während er die Tür aufmachte, um Mrs. Griffin in die Sonne hinauszulassen.
    »Du!« antwortete Rictus. »Du denkst wohl, du kennst schon alles, aber Mr. Hood kennst du noch nicht.«
    »In Kürze werde ich’s aber«, sagte Harvey. »Gehen Sie sich aufwärmen«, riet er Mrs. Griffin. »Ich komme wieder.«
    »Sei vorsichtig, Kind«, sagte sie.
    »Bin ich«, versicherte er ihr. Dann machte er die Tür zu.
    »Du bist ein seltsamer Kauz«, sagte Rictus. Sein Lachen klang leicht irritiert. Ohne seine blendenden Zähne wirkte sein Gesicht wie eine Maske aus Teig.
    »Ich könnte dir dein Hirn aus den Ohren saugen«, sagte er, und seine Stimme hatte gar nichts Angenehmes mehr.
    »Ja, vielleicht könntest du’s«, entgegnete Harvey, »aber du wirst es nicht tun.«
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    »Woher willst du das wissen?«
    »Weil ich eine Verabredung mit deinem Herrn und Meister habe.«
    Damit ging er auf die Treppe zu. Aber noch ehe er die unterste Stufe erreicht hatte, baute sich eine dunkle Flatterfigur vor ihm auf. Es war Jive mit einem Teller Apfelkuchen und Eiscreme.
    »Es geht hoch hinauf«, sagte er. »Also iß lieber vorher noch etwas.«
    Harvey schaute auf den Teller. Der Kuchen war goldbraun und mit Puderzucker bestäubt, und die Eiscreme schmolz zu einem süßen, weißen Fleck. Das Ganze sah sehr verführerisch aus.
    »Na los«, sagte Jive, »du hast es dir verdient.«
    »Nein, danke«, erklärte Harvey.
    »Warum nicht?« wollte Jive wissen und drehte sich einmal um die eigene Achse.
    »Ich weiß, woraus es besteht«, sagte Harvey.
    »Äpfel, Zimt und –«
    »Nein«, sagte Harvey, »ich weiß, woraus es wirklich besteht.«
    Wieder schaute er den Kuchen an, und einen Augenblick lang schien er hinter den schönen Schein der Dinge und den grauen Staub und die Asche zu sehen, aus denen diese Illusion bestand.
    »Du glaubst, er wäre vergiftet?« rief Jive. »Ist es das?«
    »Vielleicht«, antwortete Harvey, der noch immer den Kuchen anstarrte.
    »Aber das ist er nicht!« sagte Jive. »Und ich werde es beweisen!«
    Harvey hörte, wie Rictus hinter ihm einen Warnlaut ausstieß, aber davon bekam Jive nichts mit. Gierig schnappte er sich mit bloßen Fingern den Kuchen und die Eiscreme und stopfte sich beides mit einem Ruck in den Mund. Noch während er den 169

    Mund zumachte, rief Rictus:
    »Nicht schlucken!«
    Aber es war zu spät. Mit einem Schluck war das Essen unten.
    Beinahe gleichzeitig ließ Jive den Teller fallen und drosch mit den Fäusten auf seinen Magen ein, als ob er das Essen wieder herausdrücken wollte. Aber statt des halbzerkauten Kuchens stieg eine Staubwolke zwischen seinen Zähnen auf. Dann noch eine, und noch eine.
    Halb blind fuhr Jive Harvey an die Kehle.
    »Was … hast … du … gemacht?« hustete er.
    Aber Harvey konnte ihn mühelos abschütteln.
    »Alles nur Staub«, sagte er. »Dreck, Staub und Asche! Das ganze Essen! Die Geschenke! Alles!«
    »Helft mir!« schrie Jive und zerfleischte sich den Mund.
    »Nun helft mir doch!«
    »Dir kann keiner mehr helfen!« tönte es ernst.
    Harvey schaute sich um. Es war Rictus gewesen. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und entfernte sich rückwärts aus der Diele. Zwischen den Fingern hindurch starrte er Jive an, und seine Zähne klapperten, als er die schreckliche Wahrheit aussprach: »Du hättest den Kuchen nicht essen dürfen«, sagte er. »Er erinnert deinen Bauch an das, woraus du gemacht bist.«
    »Woraus denn?« fragte Jive.
    »Wie der Junge gesagt hat«, antworte Rictus. »Aus Dreck, Staub und Asche!«
    Daraufhin warf Jive den Kopf zurück und heulte Neeeiiin! , aber noch während er den Mund aufmachte und protestierte, quoll die Wahrheit heraus: Aus seiner Speiseröhre liefen ganze Ströme von trockenem Staub und schwappten über seine Finger. Es war wie eine tödliche Botschaft, die ein Teil seines Körpers an den anderen weitergab. Als der Staub die Finger berührte, zerbröckelten auch sie der Reihe nach, und die Brösel gaben den Hauch des Verfalls an Schenkel, Knie und Füße 170

    weiter.
    Kurz bevor er zu Boden stürzte, drehte er sich in einer letzten Pirouette noch einmal um sich selber und klammerte sich ans Treppengeländer.
    »Rette mich!« brüllte er die Treppe hinauf. »Mr. Hood, hörst du mich? Bitte! Bitte, rette mich!«
    Jetzt bröckelten auch die Beine, aber noch immer wollte und wollte er nicht aufgeben. Er begann, sich

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