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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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die Treppe hinaufzu-ziehen, und brüllte dabei noch immer, Mr. Hood solle ihn heilen. Aus den höchsten Höhen des Hauses kam jedoch keine Antwort, und auch Rictus war jetzt totenstill. Nur noch Jives Bitten und Keuchen war zu hören und der Staub, der zischend die Treppe hinunterlief. Sein Körper entleerte sich wie ein Sack.
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    »Was ist denn hier los?« fragte Wendell, der mit ketchupver-schmiertem Mund aus der Küche auftauchte.
    Er starrte die Staubwolke an, die über der Treppe hing. Die Kreatur im Innersten konnte er nicht erkennen. Aber Harvey war näher an der Wolke dran und wurde so Zeuge von Jives letzten, schrecklichen Augenblicken. Die sterbende Kreatur streckte eine fast schon fingerlose Hand die Treppe hinauf, und noch während sie ihr Leben aushauchte, hoffte sie, ihr Schöpfer würde kommen und sie retten. Dann sank sie auf den Stufen zusammen, und ihre letzten, kläglichen Überreste lösten sich auf.
    »Hat jemand Teppiche geklopft?« fragte Wendell, als sich Jives Staub gelegt hatte.
    »Zwei weniger«, murmelte Harvey vor sich hin.
    »Was hast du gesagt?« wollte Wendell wissen.
    Bevor Harvey antwortete, schaute er sich in der Diele um. Er suchte Rictus. Aber Hoods dritter Diener war verschwunden.
    »Ach, nicht so wichtig«, sagte Harvey. »Bist du mit dem Essen fertig?«
    »Ja.«
    »Und hat es gut geschmeckt?«
    Wendell grinste. »O ja!«
    Harvey schüttelte den Kopf.
    »Was soll nun das wieder bedeuten?« wollte Wendell wissen.
    Um ein Haar hätte Harvey gesagt: Es bedeutet, daß du mir nicht helfen kannst. Und es bedeutet, daß ich ganz allein hinaufgehen und Mr. Hood entgegentreten muß. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Das Haus hatte Wendell voll und ganz in seinen Bann gezogen. Also wäre er in dem bevorstehenden Kampf mehr Behinderung als Hilfe gewesen.
    Deswegen sagte Harvey nur:
    »Mrs. Griffin ist draußen.«
    »Also haben wir sie gefunden?«
    »Wir haben sie gefunden.«
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    »Dann geh’ ich sie mal begrüßen«, rief Wendell mit einem fröhlichen Lachen.
    »Gute Idee.«
    Wendell hatte bereits die Hand an der Tür, da drehte er sich um und sagte:
    »Und wo wirst du sein?«
    Aber Harvey antwortete nicht. Er war bereits an dem Haufen Staub, der noch von Jives Ableben kündete, vorbei und fast schon oben am ersten Treppenabsatz. Harvey war auf dem Weg zur Begegnung mit jener Macht, die in der Dunkelheit des Speichers auf ihn wartete.
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XX
Die Diebe treffen sich

    D ie staubige Wahrheit, getarnt als Kuchen und Eiscreme, zu durchschauen, war eine Sache gewesen, aber an dem Lack der Täuschung zu kratzen, den das Haus bis zur Perfektion poliert hatte, das war etwas anderes. Während Harvey die Treppe hinaufstieg, hoffte er noch immer, daß ihm an den Wänden oder Teppichen eine winzige Kleinigkeit auffallen würde, die es ihm gestattete, gleichsam mit geistigen Fingern unter den Verschluß der Illusion zu greifen, ihn hochzuheben und nachzusehen, was für ein widerwärtiges Etwas sich dahinter verbarg. Wenn Marr aus muffigem Matsch und Spucke und Jive aus Staub geschaffen waren, woraus würde dann das Haus selber bestehen? Aber es verstand seine Sache viel zu gut.
    Harvey konnte es noch so sehr anstarren, er kam nicht hinter die Täuschung. Mit Wärme, Farben und herrlichen Sommer-düften umschmeichelte es seine Sinne, raunte ihm leise ins Ohr und blies ihm sachte übers Gesicht.
    Sogar als er den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, wo es dunkel war, tat das Haus immer noch so, als ob das Ganze nichts anderes wäre als eine neue Art von Versteckspiel, so wie die unzähligen Spiele, die in seinem Schatten schon gespielt worden waren.
    Vor ihm waren fünf Türen, jede ein paar Zentimeter weit offen, als ob sie sagen wollte:
    Hier gibt es keine Geheimnisse, schon gar nicht vor einem Jungen, der die Wahrheit wissen will. Komm und schau! Komm und schau, wenn du dich traust!
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    Er traute sich wohl, allerdings auf andere Art, als das Haus vermutet hatte. Nachdem er die Türen einige Augenblicke eindringlich gemustert hatte, kümmerte er sich nicht mehr darum, sondern marschierte wieder ein Stockwerk tiefer, holte sich aus einem Schlafzimmer einen stabilen Stuhl, trug ihn nach oben, kletterte darauf und stieß die Luke auf, die zum Speicher führte.
    Er mußte ganz schön schuften, bis er sich hinaufgezogen hatte, aber als er endlich schwer atmend auf dem Speicherbo-den lag, wußte er, daß seine Jagd nach Hood beinahe zu Ende war. Der König der Vampire war ganz in

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