Das Haus der verschwundenen Jahre
antworten konnte. Trotzdem hoffte er auf irgendein Zeichen.
Statt einer Antwort lief Sausewind über den Boden, hüpfte mit einem Satz auf die Kiste und begann, am Holz zu kratzen.
Harveys Neugier war stärker als seine Angst, aber doch nicht so stark, daß er sofort hinübergerannt wäre und den Deckel hochgehoben hätte. Langsam näherte er sich der Kiste, als ob sie ein schlafendes Untier enthielte. Und nach allem, was er wußte, tat sie das wohl auch. Je näher er kam, desto mehr erinnerte sie ihn an einen roh gezimmerten Sarg. Aber welcher Sarg war schon mit einem Vorhängeschloß versperrt? Hatte man hier vielleicht Carna begraben, nachdem das Untier seinen verletzten Körper nach Hause geschleppt hatte? Hörte es jetzt vielleicht sogar, wie Sausewind am Deckel kratzte, und wartete nur auf seine Befreiung?
Als er nur noch einen Meter vom Sarg entfernt war, fiel sein Blick auf etwas, das den Inhalt verriet: Ein Schürzenband hing heraus. Wer auch immer die Kiste versperrt hatte, hatte es übersehen. Und Harvey kannte nur eine einzige Person im Haus, die eine Schürze trug.
»Mrs. Griffin?« flüsterte er und versuchte, mit den Fingernä-
geln unter den Deckel zu kommen. »Mrs. Griffin? Sind Sie da drinnen?«
Von innen pochte es dumpf.
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»Ich werde Sie herausbekommen«, versprach er und zerrte mit aller Kraft am Deckel.
Aber er war nicht stark genug, um das Schloß aufzubrechen.
Verzweifelt durchsuchte er den ganzen Keller nach einem Werkzeug oder etwas anderem und fand dabei zwei handliche Steine. Er hob sie auf und ging zum Sarg zurück.
»Jetzt wird’s laut«, warnte er Mrs. Griffin vor.
Dann benützte er einen Stein als Meißel und den anderen als Hammer und schlug auf das Schloß ein. Als er das Metall traf, gab es zwar einen blauen Funkenregen, aber viel mehr schien er nicht auszurichten. Doch plötzlich gab es einen lauten Knall, und das Schloß fiel zu Boden.
Einen Augenblick hielt er inne, ein Anflug von Zweifel hatte ihn gestreift. Angenommen, es wäre doch Carnas Sarg? Aber dann warf er die Steine weg und hob den Deckel hoch.
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XVIII
Die bittere Wahrheit
A ls er sah, wie übel Mrs. Griffin zugerichtet war, hätte er beinahe laut aufgeschrien. Mit wirrem Blick starrte sie zu ihm hoch. Man hatte ihr büschelweise die Haare ausgerissen, ihr Gesicht war mit purpurschillernden Flecken übersät, und man hatte ihr einen stinkenden Lumpen in den Mund gesteckt.
Vorsichtig entfernte Harvey ihn. Sie fing an zu sprechen, brachte aber nur ein heiseres Flüstern hervor.
»Danke, mein Schatz, danke«, sagte sie, »aber ach, du hättest nicht zurückkommen dürfen. Hier ist es viel zu gefährlich.«
»Wer hat Ihnen das angetan?«
»Jive und Rictus.«
»Aber auf seinen Befehl hin, stimmt’s?« sagte Harvey und half ihr auf. »Erzählen Sie mir jetzt nicht, er sei tot, weil ich weiß, daß es keine Rolle spielt. Hood ist hier im Haus, ja?«
»Ja«, sagte sie und hielt sich an ihm fest, während sie aus der Kiste kletterte. »Ja, er ist hier, aber nicht so, wie du denkst …«
Daraufhin fing sie an zu weinen, und Tränen erstickten ihre Worte.
»Ist ja gut«, sagte Harvey, »alles wird wieder gut.«
Ihre Finger wanderten zu ihrem Gesicht und berührten ihre Tränen. »Ich dachte … ich dachte, daß ich nie wieder weinen könnte«, sagte sie. »Schau, was du fertiggebracht hast!«
»Tut mir leid«, sagte Harvey.
»O nein, mein Schatz, das muß dir nicht leid tun. Es ist wunderbar.« Sie lächelte unter ihren Tränen. »Du hast seinen Fluch über mich gebrochen.«
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»Welchen Fluch?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte.«
»Ich würde sie gerne hören.«
»Ich war das allererste Kind, das in Hoods Haus kam«, sagte sie. »Viele, viele Jahre ist das her. Ich war neun, als ich zum erstenmal die Vordertreppe hinaufstieg. Weißt du, ich war von zu Hause fortgelaufen.«
»Warum?«
»Meine Katze war gestorben, und mein Vater hatte sich geweigert, mir eine neue zu kaufen. Und was, glaubst du, hat mir Rictus noch am Tag meiner Ankunft geschenkt?«
»Drei Katzen?« vermutete Harvey.
»Dann weißt du also, wie dieses Haus funktioniert?«
Harvey nickte. »Es erfüllt einem selbst die geheimsten Wünsche.«
»Und ich habe mir Katzen gewünscht und ein Zuhause und –«
»Was noch?«
»Einen neuen Vater.« Die Erinnerung an den Schrecken ließ sie vor Angst zittern. »In jener Nacht bin ich Hood begegnet.
Wenigstens habe ich seine Stimme gehört.«
Inzwischen saß
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