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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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der Nähe. Denn wer außer einem Meister der Illusionen würde an einem Ort leben, an dem es keine einzige gab? Der Speicher war das ganze Gegenteil vom Haus: verdreckt, düster und voll Spinnweben.
    »Wo bist du?« rief er laut, denn es war sinnlos, zu glauben, er könne den Feind überraschen. Hood hatte seinen Aufstieg von der ersten Stufe an verfolgt. »Komm heraus«, schrie er, »ich will sehen, wie ein Dieb aussieht.«
    Zuerst kam keine Antwort, doch dann hörte Harvey irgendwo vom anderen Speicherende ein tiefes, kehliges Knurren. Da wartete er nicht mehr erst ab, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sondern lief sofort in diese Richtung. Bei jedem Schritt knarrten die Bohlen unter seinen Füßen.
    Zweimal hielt er inne und schaute nach oben. Irgendwo aus der Dunkelheit über ihm kam ein irritierendes Geräusch. War es ein gefangener Vogel, der in Panik wie blind hin und her flog? Oder vielleicht ganze Heerscharen von Kakerlaken in den Balken über ihm?
    Er ermahnte sich, solche Einbildungen aus dem Kopf zu verbannen und sich statt dessen lieber auf die Suche nach Hood zu konzentrieren. Hier gab es genügend echte Gründe zum Angsthaben, da mußte man nicht noch welche erfinden. Anders als in der Nähe der Luke diente dieses Speicherende als eine 177

    Art Lagerraum, und sicher lauerte sein Feind irgendwo in diesem Labyrinth aus kaputten Bildern und verschimmelten Möbeln. Hatte er da nicht gerade aus den Augenwinkeln heraus etwas flattern sehen?
    »Hood?« fragte er, wobei er die Augen zusammenkniff, um einen besseren Eindruck von der Gestalt im Schatten zu bekommen. »Warum versteckst du dich hier oben?«
    Er machte noch einen Schritt vorwärts, und im selben Moment wurde ihm sein Irrtum bewußt. Dies hier war gar nicht der geheimnisvolle Mr. Hood. Diese Gestalt kannte er, obwohl sie schrecklich zugerichtet war. Diese halbzerfressenen Flügel, diese winzigen, schwarzen Augen, diese Zähne, diese unendlich vielen Zähne.
    Es war Carna!
    Die Kreatur erhob sich halb von ihrem verwahrlosten Nest und schnappte nach Harvey. Der stolperte rückwärts, und sicher hätte ihn Carna nach drei Schritten gepackt. Aber durch seine Verletzungen konnte das Untier nur mühsam vorwärts-humpeln, und das Chaos in seiner Umgebung machte es noch langsamer.
    Links und rechts wurden die Müllberge attackiert, Stühle flogen, Schachteln fielen um, und endlich rappelte es sich unter Schmerzen auf und setzte seiner Beute nach. Während Harvey zurückwich, fixierte er ständig das Untier. Sein Kopf brummte vor Fragen. Wo steckte Hood? Das war das große Rätsel. Mrs.
    Griffin war überzeugt gewesen, er wäre irgendwo hier oben.
    Aber inzwischen hatte Harvey den Speicher von vorne bis hinten durchgekämmt, und der einzige Bewohner war jene Kreatur, die ihn wieder zum Ausgang zurücktrieb.
    Während seines Rückzugs warf er ab und zu verstohlene Blicke ins Dunkel. Vielleicht versteckte sich ja hier eine Gestalt, die er übersehen hatte. Aber keine Menschenseele fiel ihm auf, nur eine Kugel. Sie war so groß wie ein Tennisball und leuchtete, als ob das Licht der Sterne darin eingefangen 178

    wäre. Wie eine Seifenblase schien sie sich von den Bohlen zu lösen und stieg dann zum Dach hoch. Einen Moment lang vergaß Harvey die Gefahr, in der er schwebte, und schaute zu, wie sie höher stieg. Und dann eine zweite Kugel, eine dritte, eine vierte.
    Der Anblick verblüffte ihn, und so achtete er nicht recht darauf, wohin er trat. Er stolperte und fiel hin. Da lag er nun rücklings auf den harten Bohlen und starrte durch einen roten Schmerzschleier zum Dach hinauf.
    Und dort, direkt über ihm, war Hood in seiner ganzen Pracht.
    Sein Gesicht bedeckte das ganze Dach, seine Miene war erschreckend verzerrt. Seine Augen bohrten sich wie dunkle Krater in die Dachbalken. Seine Nase war grotesk verzogen und plattgedrückt wie bei einer Riesenfledermaus. Sein Mund, ein lippenloser Schlitz, war mindestens drei Meter breit, und von dort kam eine Stimme, die an knarrende Türen und fauchende Kamine und ratternde Fenster erinnerte.
    »Kind!« sagte er. »Du hast Leid in mein Paradies gebracht.
    Schande über dich!«
    »Welches Leid ?« schrie Harvey zurück. Er zitterte wie Espen-laub, aber er wußte, dies war kein Augenblick, um Furcht zu zeigen. Er würde mit Illusionen handeln wie sein Feind und den Mutigen spielen, auch wenn er sich gar nicht danach fühlte. »Ich bin gekommen, um zu holen, was mir gehört hat, das ist

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