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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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alles.«
    Hood saugte eine der glänzenden Sphärenkugeln ein. Das Strahlen erlosch sofort.
    »Marr ist tot«, sagte er, »und Jive auch. Zu Staub und Dreck geworden – wegen dir!«
    »Sie waren nie lebendig«, sagte Harvey.
    »Hast du sie nicht schluchzen und flehen hören?« wollte Hood wissen und zog die Augenbrauen noch finsterer zusammen. »Taten sie dir nicht leid?«
    »Nein«, sagte Harvey.
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    »Dann wirst du mir auch nicht leid tun«, tönte es rasselnd zurück. »Ich werde mit Freuden zusehen, wie dich mein armer Carna von Kopf bis Fuß verschlingt.«
    Harvey warf einen Blick zu Carna hinüber. Wenige Schritte vor seinen Füßen hockte das Untier mit geiferndem Maul und wartete nur darauf, loszuschlagen. Ganz still saß es da, und so konnte Harvey deutlich erkennen, wie schwer verletzt es war.
    Sein zerfetzter Körper glich einem Lumpenteppich, und der riesige Kopf hing herunter, als ob ihm jeder Atemzug schwer-fallen würde.
    Harvey starrte es an und dabei fiel ihm wieder ein Satz von Mrs. Griffin ein:
    »Heute würde ich den Tod wie einen Freund begrüßen«, hatte sie gesagt, »wie einen Freund, den ich einst von meiner Tür gejagt habe.«
    Vielleicht wartete auf Carna keine Reise zu den Sternen, sondern nur die Rückkehr ins Nichts, aus dem Hood ihn hervorgezaubert hatte. Dennoch sehnte sich die müde und verletzte Kreatur nach diesem Geschenk, denn nicht mehr ihr eigener Wille hielt sie am Leben, sondern nur Hoods unerbittli-che Sklavenschinderei.
    »Wie schade«, murmelte die Stimme im Dach.
    »Was ist?« fragte Harvey und wandte sich wieder Hood zu, der zwei weitere Kugeln an den Lippen hatte.
    »Daß wir dich auf diese Art verlieren«, fuhr er fort. »Kann ich dich nicht überreden, daß du’s dir noch einmal überlegst?
    Schließlich habe ich dir ja nicht weh getan. Warum kommst du also nicht zurück, um hier in Frieden zu leben?«
    »Du hast mir dreißig Jahre meiner Zeit mit meinen Eltern gestohlen!« rief Harvey. »Und wenn ich hierbleibe, stiehlst du mir noch viel mehr.«
    »Ich habe doch nur die Tage genommen, die du nicht wolltest«, protestierte Hood. »Die Regentage und die grauen Tage.
    Tage, die du unbedingt los sein wolltest. Was ist daran ein 180

    Verbrechen?«
    »Ich wußte nicht, was ich verlor«, widersprach Harvey.
    »Ach« , sagte Hood milde, »aber ist das denn nicht immer so?
    Die Dinge gleiten uns zwischen den Fingern hindurch, und erst wenn sie fort sind, bedauern wir es. Aber, Harvey Swick, fort ist fort!«
    »Nein!« rief Harvey. »Was du gestohlen hast, kann ich zu-rückstehlen.«
    Bei diesen Worten glomm es in den Zwillingskratern von Hoods Augen auf.
    »Du bist ein kluger Kopf, Harvey Swick!« sagte er. »Ich habe noch nie eine so kluge Seele wie deine gekannt.« Er runzelte die Stirn, als ob er den Jungen unter sich genau studieren wollte, und sagte: »Jetzt verstehe ich.«
    »Was verstehst du?«
    »Warum du zurückgekommen bist.«
    Ich bin gekommen, um mir zu holen, was du mir wegge-nommen hast, wollte Harvey sagen, aber er hatte noch keine zwei Worte herausgebracht, da unterbrach ihn Hood bereits.
    »Du bist gekommen, weil du wußtest, daß du hier ein Zuhause findest«, sagte Hood. »Harvey Swick, wir sind beide Diebe. Ich stehle Zeit, du stiehlst Leben. Aber letzten Endes sind wir beide gleich: zwei Diebe, vor denen nichts sicher ist.«
    Schon der Gedanke, er könnte in irgendeiner Weise diesem Monster ähnlich sein, war Harvey widerwärtig. Und trotzdem fürchtete er ganz insgeheim, daß etwas Wahres daran sei. Der Gedanke ließ ihn verstummen.
    »Vielleicht müßten wir gar keine Feinde sein«, meinte Hood.
    »Vielleicht sollte ich dich unter meine Flügel nehmen. Meinen West-Flügel, zum Beispiel.« Er lachte freudlos über seinen eigenen Scherz. »Ich könnte dich ausbilden und dir helfen, die Pfade der Dunkelheit besser zu verstehen.«
    »Damit ich am Ende auch Kinder fresse wie du?« sagte Harvey. »Nein, danke.«
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    »Ich glaube, es würde dir gefallen, Harvey Swick«, sagte Hood. »Du hast ja bereits etwas von einem Vampir an dir.«
    Das war nicht zu leugnen. Schon das Wort Vampir erinnerte Harvey an seinen Halloween-Flug, als er mit knallroten Augen und rasiermesserscharfen Zähnen hoch hinauf in den Voll-mondhimmel gestiegen war.
    »Ich merke, du erinnerst dich«, sagte Hood. Er hatte den Anflug von Vergnügen auf Harveys Gesicht durchaus regi-striert.
    Sofort zog Harvey ein finsteres Gesicht und sagte: »Ich habe nicht vor hierzubleiben. Ich will

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