Das Haus der verschwundenen Jahre
entschieden.
»Dann solltest du es mal versuchen«, riet Harvey. »Wenn du mich in einen Wurm oder eine Fledermaus verwandeln kannst, was könntest du dann wohl für dich selber tun?«
Ihr trotziger Gesichtsausdruck wich Verblüffung, und dann kam Panik. Ihre ausgestreckten Finger zogen sich langsam zurück. Blitzschnell griff Harvey danach und verzahnte sie mit seinen eigenen.
»Was möchtest du denn sein?« rief er. »Denk nach!«
Allmählich leistete sie Widerstand, und er spürte, daß ihre Zauberei wie ein Strom durch ihre Finger in seine eigenen floß und versuchte, ihn irgendwie zu verändern. Aber er wollte kein Vampir mehr sein und ganz sicher auch kein Wurm. Er war ganz zufrieden, er selber zu sein, und deshalb hatte die Zauberei keine Gewalt über ihn. Statt dessen floß sie zu Marr zurück, die zu zittern anfing, als ob man sie in Eiswasser getaucht hätte.
»Was … machst … du … da?« wollte sie wissen.
»Erzähl mir, was in deinem Herzen ist«, sagte er und drehte den Spieß um.
»Dir werde ich gar nichts erzählen!« antwortete sie und versuchte noch immer ihre Finger aus seinen herauszuwinden.
Aber sie war es nicht gewöhnt, daß ihre Opfer derart Widerstand leisteten. Ihre Muskeln waren schlaff und kraftlos, und obwohl sie zerrte und zerrte, konnte sie sich nicht von ihm losreißen.
»Laß mich in Ruhe!« rief sie. »Wenn du mir weh tust, wird dich das bei Mr. Hood den Kopf kosten.«
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»Ich tu dir ja gar nichts«, antwortete Harvey. »Ich überlasse dich nur deinen Träumen, so wie du es bei mir gemacht hast.«
»Aber ich will sie gar nicht!« schrie sie und wand sich noch stärker als zuvor.
Aber er ließ nicht locker, im Gegenteil. Er rückte noch näher, als ob er sie in die Arme nehmen wollte. Sie begann, ihn anzuspucken – mit großen Schleimklumpen –, aber er wischte sie ab und kam immer näher.
»Nein«, murmelte sie da, »nein.«
Aber sie konnte nicht verhindern, daß der Zauber, den sie ihm zugedacht hatte, an ihrer eigenen Haut und an ihren Knochen zu wirken begann. Ihr fettes Gesicht wurde weich und schmolz dahin wie Wachs. Ihr Körper sackte in dem zerlumpten Mantel zusammen, und langsam breitete sich eine grünliche Schleim-suppe auf dem Boden aus.
»Oh«, schluchzte sie, »du verfluchtes Kind!«
Harvey überlegte, was für ein Traum das wohl wäre, der Marr zu Matsch verwandeln konnte? Sie schrumpfte immer noch, die Kleider fielen von ihr ab, und ihre Stimme wurde dünn. Es würde nicht mehr lange dauern, und sie hätte sich ganz aufgelöst.
»Was träumst du?« fragte Harvey, während ihm Marrs Finger wie Wasser aus den Händen glitten.
»Gar nichts«, antwortete Marr, während ihre Augen immer tiefer in dem sich auflösenden Schädel versanken, » … und genau … das … werde ich … jetzt …« Sie war nun schon beinahe ganz in den Falten ihrer Kleidung verschwunden.
»Nichts«, sagte sie noch einmal. Jetzt war sie nur noch eine Dreckpfütze, eine Pfütze mit schwindender Stimme. »Nichts.«
Dann war sie fort, von ihrer eigenen Zauberei verschlungen.
»Du hast’s geschafft!« rief Mrs. Griffin. »Kind, du hast’s geschafft!«
»Einer weg, drei übrig«, sagte Harvey.
»Drei?«
163
»Rictus, Jive und Hood selbst.«
»Du vergißt Carna.«
»Lebt er noch?«
Mrs. Griffin nickte. »Leider habe ich ihn jede Nacht schreien hören. Er dürstet nach Rache.«
»Und ich will mein Leben wieder haben«, sagte Harvey, nahm sie am Arm und geleitete sie – sie trug noch immer Sausewind – zum Fuß der Treppe. »Und ich werde es bekommen, Mrs. Griffin. Egal, was es kostet, ich werde es bekommen.«
Mrs. Griffin warf einen Blick zurück auf den Kleiderhaufen, der an dem Platz lag, wo sich Marr in Nichts verwandelt hatte.
»Vielleicht schaffst du es tatsächlich«, sagte sie mit staunender Stimme. »Von allen Kindern, die hierhergekommen sind, bist du vielleicht der einzige, der Hood mit seinen eigenen Waffen schlagen kann.«
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XIX
Staub zu Staub
A m Ende der Treppe wartete Rictus auf ihn. Er lächelte süß, aber seine Worte waren ganz das Gegenteil.
»Jetzt bist du ein Mörder, kleiner Mann!« sagte er. »Gefällt es dir, Marrs Blut an deinen Händen zu wissen?«
»Er hat sie nicht umgebracht«, sagte Mrs. Griffin. »Sie war ja nie lebendig. So wie keiner von euch.«
»Was sind wir denn?« sagte Rictus.
»Illusionen«, antwortete Harvey und dirigierte Mrs. Griffin und ihre Katze an Rictus vorbei zur Vordertür. »Alles nur
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