Das Haus der verschwundenen Jahre
nur, was mir gehört, und dann gehe ich.«
Hood seufzte. »Wie schade«, sagte er, »wie überaus schade.
Aber wenn du unbedingt willst, was dir gehört, dann sollst du’s haben: den Tod. Carna?« Das Untier hob seinen mitleiderre-genden Schädel. »Verschling den Jungen!«
Noch ehe sich das elende Untier in Bewegung gesetzt hatte, war Harvey schon auf den Füßen. Ihm war klar, daß er nur wenig Chancen hatte, Carna beim Wettlauf zur Luke zu besiegen. Aber gab es nicht vielleicht noch eine andere Möglichkeit, das Untier auszutricksen? Angenommen, er wäre tatsächlich – wie Hood gesagt hatte – ein Dieb, vor dem nichts sicher war. Wäre es dann nicht Zeit, es zu beweisen? Nicht mit Staub oder gestohlenen Zaubertricks, sondern mit der Kraft, die in seinem Innersten steckte.
Carna machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. Aber Harvey wich nicht zurück, sondern streckte die Hand nach der Kreatur aus, als ob er ihren verwesenden Kopf tätscheln wollte.
Es zögerte, und auf seiner Miene machte sich langsam Zweifel breit.
»Verschling ihn!« grollte der König der Vampire.
Das Untier senkte den Kopf, als ob es von oben eine Bestra-fung erwarten würde. Aber es war Harvey, der ihm die Hand auflegte. Eine sanfte Berührung, die seinen Körper erschauern 182
ließ. Es hob seine Schnauze, preßte sie gegen Harveys Hand-fläche und stöhnte dabei lange und tief auf.
Das klang nicht nach Schmerz und auch nicht nach Klage.
Tatsächlich lag in dem Stöhnen fast so etwas wie Dankbarkeit, Dankbarkeit dafür, daß es einmal nicht mit Schlägen oder Horrorgeschrei begrüßt worden war. Es schien zu wissen, daß diese Geste fatale Folgen haben würde. Es zog sich von seinem Tröster zurück, erbebte noch stärker, und beinahe im selben Augenblick zerbarst sein Körper in tausend Stücke.
Noch vor Sekunden waren seine Zähne ein einziger Graus gewesen, jetzt rollten sie ins Dunkle. Der massive Schädel zersplitterte, das Rückgrat brach zusammen. Nach wenigen Sekunden war nur noch ein Haufen trockener, alter Knochen-splitter übrig, die selbst der hungrigste Hund verschmäht hätte.
Harvey warf einen Blick zu dem Gesicht im Dach hinauf.
Hood sah völlig verblüfft drein, sein Mund stand sperrangelweit offen, und die Augen starrten aus ihren Kratern.
Harvey wartete nicht ab, bis er sein Schweigen brach, sondern drehte einfach Carnas Überresten den Rücken zu und ging auf die Luke zu. Eigentlich hatte er damit gerechnet, die Kreatur im Dach würde sie zufallen lassen, aber Hood reagierte nicht.
Erst als sich Harvey auf den Stuhl im Treppenhaus hinunterge-lassen hatte und einen letzten Blick in den Speicher hinauf warf, redete Hood.
»O mein kleiner Dieb …«, murmelte er. »Was sollen wir nun mit dir machen?«
XXI
Tricks und Versuchungen
» H ast du gut gemacht«, rief das Grinsegesicht, das ihn oben an der Treppe erwartete.
»Ich hatte mich schon gewundert, wohin du verschwunden bist«, sagte Harvey zu Rictus.
»Immer zu Diensten«, tönte es salbungsvoll zurück.
»Wirklich?« fragte Harvey, kletterte vom Stuhl herunter und ging auf die Kreatur zu.
»Natürlich«, sagte Rictus. »Immer.«
Jetzt war Harvey näher an dem Männchen dran und sah die Risse in seiner Politur. Das Lächeln wirkte wie zementiert, und seine Worte trieften von Schmalz und Honig, aber die teigige Haut roch säuerlich nach Angst.
»Du hast Angst vor mir, stimmt’s?« fragte Harvey.
»Nein, nein«, betonte Rictus, »nur Respekt, sonst nichts. Mr.
Hood hält dich für einen kleinen Jungen und hat mich angewie-sen, dir jeden Wunsch zu erfüllen, nur damit du bleibst.« Er breitete die Arme aus. »Der Himmel ist die Grenze.«
»Du weißt ganz genau, was ich will.«
»Alles kannst du haben, Dieb, aber nicht die Jahre. Die nicht.
Außerdem, wenn du hier bleibst und Mr. Hoods Lehrling wirst, brauchst du sie gar nicht. Dann wirst du ewig leben, wie er.« Er tupfte sich mit einem vergilbten Taschentuch den Schweiß von der Oberlippe. »Denk mal darüber nach«, sagte er. »Solche wie Carna kannst du vielleicht töten … Oder auch mich … Aber Hood wirst du nicht beikommen können. Er ist zu alt, zu weise und viel zu tot.«
186
»Wenn ich bleiben würde …«, sagte Harvey.
Rictus grinste noch stärker. »Ja?« schnurrte er.
»Würden dann die Kinder im See freigelassen?«
»Warum zerbrichst du dir darüber den Kopf?«
»Weil eines davon mein Freund war«, erinnerte ihn Harvey.
»Du denkst an die kleine Lulu, ja?« sagte
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