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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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daß der alte Professor nur hiergewesen war, um das Gebäude zu inspizieren. Vielleicht war er einer der Verantwortlichen für die exterritorialen Besitztümer des Heiligen Stuhls.
    Doch so recht mochte Jupiter an diese Möglichkeit nicht glauben. Der Fund der Kupferplatte und das Auftauchen Cristoforos hatten ein latentes Mißtrauen bei ihm wachgerufen, und er spürte selbst, daß es in eine ausgewachsene Paranoia umzukippen drohte. Den Vatikan zu unterschätzen wäre ein grober Fehler gewesen, allen voran Kardinal von Thaden und seinen weißhäutigen Lakaien Landini. In Gedanken setzte er den mysteriösen Professor und seinen Chauffeur mit auf die Liste potentieller Widersacher.
    Aus dem Inneren des Palazzo drang der abgestandene Geruch von Urin und feuchtem Mauerwerk. Ein kurzer, eiskalter Luftzug wehte ihm entgegen und blähte seinen Mantel wie ein Schiffssegel kurz vor dem Sturm. Er zog die Kamera aus der Tasche und legte den Finger vorsorglich auf den Auslöser, um gegebenenfalls schnell reagieren zu können.
    Entschlossener als zuvor, durchquerte er den Torbogen … und betrat die Kerkerwelt der Carceri.
    Die Eingangshalle war das Tor zum Universum Piranesis. Die Wände waren bis auf den letzten Winkel mit Kopien der sechzehn Kupferstiche bedeckt, ins Riesenhafte vergrößert und von einem Detailreichtum, der nichts dazuerfand, sondern vielmehr Einzelheiten, die in den Originalen lediglich angelegt waren, schärfer herausarbeitete. Ketten, Brücken und Treppenstufen wirkten plastischer, die Tiefe der unterirdischen Hallen noch gigantischer und beängstigender. Nur eine einzige Auslassung hatte Cristoforo sich erlaubt: Seine Version der Kerker war menschenleer. Keine verzerrten Gestalten auf den Stufen und Zugbrücken, keine schwarzen Schattenrisse der Verdammten. Cristoforos Carceri waren verlassen, und das machte die grandiose Unmenschlichkeit ihrer Architektur noch furchteinflößender.
    Einen Moment lang hatte Jupiter das Bedürfnis, sich irgendwo anzulehnen, weil die Illusion … und eine Illusion war es ganz zweifellos … perfekt war. Er sah, daß es nur Bilder waren, sah, daß die phantastischen Kerkerkathedralen nicht wirklich existierten, und doch erschienen sie ihm so unglaublich real, so bedrückend in ihrer größenwahnsinnigen Brillanz.
    Langsam bewegte er sich ins Zentrum der Eingangshalle und näherte sich einer Korridormündung an der Stirnseite, einer Öffnung in Piranesis Vision, die vielleicht aus ihr hinaus, vielleicht aber auch noch tiefer in sie hinein führte, hinab in diesen Abgrund aus menschenverachtenden Bauten, so genial wie furchtbar.
    Die Wände des Gangs waren unbemalt. Endlich konnte Jupiter wieder frei durchatmen. Am Ende des Korridors, etwa zwanzig Meter entfernt, führte eine Treppe nach oben. Um dorthin zu gelangen, mußte er ein halbes Dutzend offener Türen passieren. Hinter jeder bot sich ihm das gleiche Bild: hohe Räume, die Cristoforo mit Farbe, Pinsel und Kreidestücken zu piranesischen Verliesen umgestaltet hatte, Schreckenslandschaften aus titanischen Steinquadern.
    Der Palazzo war ein Schrein, ein Altar vor der Kunst des Kupferstechers. Jupiter stellte sich die Frage, ob sich Cristoforo in seinem verwirrten Geist selbst als Insassen dieser Kerker sah, als Häftling in einem Gefängnis, in das er sich vor vielen Jahren verirrt hatte und aus dem er nun keinen Ausweg mehr fand. Vielleicht war das die Schattenseite seiner fotografischen Wahrnehmung. War es möglich, daß sich die Carceri derart fest in seinem Kopf verankert hatten, daß er sie nicht mehr verlassen konnte, egal ob er wollte oder nicht? War er selbst zu einem Bestandteil von Piranesis Kunst geworden, weil die Bilder der Carceri in seinem Kopf ein Eigenleben führten, sich immer weiter ausdehnten wie ein Virus in einem Computer, allen verfügbaren Speicherplatz belegten, die reale Welt auslöschten und sich selbst zur Scheinwirklichkeit stilisierten?
    Kunst als Virus, der das menschliche Gehirn zerstört. War so etwas möglich, war es denkbar?
    Jupiter schob die Vorstellung beiseite … ihm wurde schwindelig.
    Zögernd passierte er alle Türen, dann stieg er die Treppe zum ersten Stock hinauf.
    Coralina saß an ihrem Schreibtisch im Keller des Hauses, vor sich ihren leuchtenden Monitor, in der Hand den Telefonhörer, durch den sie das Gespräch der Shuvani mitanhörte.
    »Cristoforo ist tot«, sagte eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Die Meldung ist uns vor knapp einer Stunde auf den Tisch

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