Das Haus des Daedalus
Gründe geben.«
Sie sah ihn an, als hätte er etwas entsetzlich Dummes gesagt. »Tausend Gründe, ja? Und was, wenn er sich getäuscht hat?« Sie deutete auf Janus und kümmerte sich nicht darum, daß er ihre Worte mithörte. »Was schert ihn die Shuvani? Er hat’s nur auf die Scherbe und den Schlüssel abgesehen. Er hat uns angelogen. Estacado wird sie umbringen.«
Bei der Erwähnung des Schlüssels zuckte Janus’ rechte Augenbraue nach oben, doch er blickte weiterhin aus dem Fenster. »Noch eine Minute«, sagte er leise. »Nicht mehr.«
»Versuch’s noch mal«, bat Jupiter.
Mit zitternden Fingern wählte sie erneut die Nummer der Shuvani und hielt den Hörer so, daß Jupiter mithören konnte. Er wollte einen Arm um sie legen, sie beruhigen -sie trösten, falls es sein mußte -, aber er kam sich kindisch und unbeholfen vor und ließ es schließlich bleiben.
Das Freizeichen wurde zum Klingelsignal.
Einmal. Zweimal. Dreimal.
Sie waren da. Vor dem Haus. Drei Männer in schwarzer Kleidung, zum Leben erwachte Splitter der römischen Nacht. Die Shuvani hatte sie vom Küchenfenster aus gesehen, gleitende Umrisse, wie Schatten im Scheinwerferlicht eines vorüberfahrenden Autos. Sie lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoß und blieb in Sichtweite des Eingangs stehen, verborgen hinter Bücherregalen. Sie wagte kaum, sich zu rühren. Unruhig spähte sie durch eine Lücke zwischen den Buchrücken.
Jenseits des schmalen Schaufensters war niemand zu sehen.
Ein Knall zerriß die Stille. Erst glaubte sie, jemand habe gegen die Tür getreten … doch da war keiner. Das Licht der Straßenlaterne vor dem Haus begann zu flimmern; gleich darauf erlosch es. Die Dunkelheit kroch zum Fenster herein. Plötzlich stand die Shuvani in völliger Finsternis.
Sie stieß scharf die Luft aus und wich zur Treppe zurück. Noch waren die Männer nicht im Haus, aber sie wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte.
Trotz allem bedauerte sie nicht, daß sie Coralina und Jupiter nicht begleitet hatte. Niemand würde sie aus ihrem Geschäft, ihrem Haus vertreiben. Dies war ihr Zuhause, ihr Anker in der Welt. Die weisen Frauen der Roma, die ihr als Kind all ihr Wissen vermittelt hatten, jene Frauen, die sie zu einer der ihren, zur Shuvani gemacht hatten, sie hatten ihr vom Anker in der Welt erzählt, und von seiner Bedeutung. Ihr Wissen war wie eine Pflanze, die ohne Wurzeln verdorren würde. Ohne das Haus würde auch sie selbst vertrocknen, eingehen wie eine vergessene Topfpflanze. Sie würde darum kämpfen, mit allen Mitteln, die ihr zu Gebote standen; und sie hatte schon mehr getan, als sie für möglich gehalten hatte, Schlimmeres, als sie je gewollt hatte. Sie hatte einen Verrat begangen, der sich vielleicht nicht wiedergutmachen ließ.
Die Adepten der Schale, also. Domovoi Trojans großes Geheimnis. Er hatte sie verlassen, als sie davon erfahren hatte, und das, obwohl doch er es gewesen war, der ihr monatelang den Hof gemacht hatte, ganz nach den Regeln der alten Schule, so gänzlich fremd und exotisch für ein Mädchen vom fahrenden Volk.
Domovoi Trojan … Als sie gehört hatte, daß er krank war, hatte sie geweint. Nicht um ihn, für ihn. Ein großer Unterschied. Sie hatte Kräuter für ihn verbrannt und andere Dinge. Sie hatte gebetet und gesungen. Und es hatte nichts genutzt. Heute saß er im Rollstuhl, und sie war sicher, daß ihn sein Schicksal verändert hatte. Damals war er jünger gewesen, nachdenklich, aber auch voller Humor und Lebensfreude. Er war ein Gelehrter, immer auf der Suche nach mehr und noch mehr Wissen, aber er hatte diesen Hunger nach Weisheit mit einem unbändigen Spaß am Leben verbunden. Er war längst kein Student mehr gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte, nicht auf dem Papier, aber im Herzen war er immer ein Schüler geblieben, ein Adlatus höherer Mächte, höheren Wissens, höherer Weisheit. Und als er ihr begegnet war, da war er auch ihr Schüler geworden, in Dingen, die nur die Frauen der Roma wußten.
Dann aber war er aus ihrem Leben verschwunden, nur einen Tag nachdem sie von den Adepten der Schale erfahren hatte. Sie hatte ein Gespräch zwischen ihm und einem anderen Mann mitangehört, nicht absichtlich, und sie wußte genug von geheimen Lehren, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vom Studenten und Schüler zum Adepten, ein logischer Weg. Eine Treppe, deren Stufen ihn zu jenen höheren Weihen führen sollten, nach denen es ihn immer verlangt hatte; Stufen aber auch, die ihn geradewegs aus
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