Das Haus im Moor
passen schien, aber Constance befahl sich, sich nicht abschrecken zu lassen und fragte leichthin: »Gut, Sie würden sich also als Stümper bezeichnen?«
»Nein, ich bin ein Holzschnitzer.«
Constance fand, daß es sehr schwierig war, nett zu ihm zu sein.
Sie ging zu einem Regal, in dem nur Pferde standen. Das Größte war über dreißig Zentimeter, das Kleinste nur etwas mehr als ein Zentimeter hoch. Auf dem Regal standen mindestens fünfzig Tiere. Ihre Augen blieben schließlich an einem hängen, das abseits oben in einer Ecke stand und in dem dämmrigen Licht kaum zu erkennen war. Es war ein Lamm, das gerade ein Junges zur Welt brachte. Constance war schockiert. Die Schnitzerei war so realistisch, so natürlich, die Anstrengung des Muttertieres so deutlich zu sehen, daß es geradezu intim war. Das Schaf war von den Qualen der Geburt gezeichnet. Selbst Schleim war auf dem seinem Körper zu sehen.
»Nun?« Seine Stimme erschreckte sie. »Mögen Sie es?«
Constance mußte schlucken, bevor sie antwortete: »Das ist eine sehr gute Schnitzerei.«
»Aber sie schockiert Sie?«
»Nein, nein, natürlich nicht. Warum sollte sie?«
Vincent holte die Figur aus dem Regal und wiederholte ruhig: »Sie schockiert Sie.«
»Sie schockiert mich nicht. Ich habe einen Sohn zur Welt gebracht, warum sollte mich die Geburt eines Lammes da schockieren?« Ihre Stimme klang brüchig. »Befriedigt es Sie, etwas herzustellen, das die Menschen schockiert?«
Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Ich denke, es wäre besser gewesen, wenn Sie das Lamm hätten auf die Welt kommen lassen.«
»Ah, da haben wir’s. Besser das Lamm auf die Welt kommen lassen. Das habe ich schon mal gehört. Schaff alle Qualen aus dem Weg. Warum haben Sie das Lamm nicht auf die Welt kommen lassen?« Er machte jetzt ihren Tonfall nach. Dann sagte er scharf: »Weil die Dinge so und nicht anders sind. So kommen wir heraus, Sie und ich, schleimbedeckt und kämpfend, wir fügen Schmerz zu. Wir werden mit Schmerzen geboren und rächen uns, indem wir sie zurückgeben. Unser Leben lang fügen wir jemandem Schmerz zu.« Er hielt inne und sah in Constances blasses Gesicht. »Aber alles in allem haben die Frauen es leichter. Nur sie können Leben geben. Und sie können eine Menge Schmerzen loswerden, indem sie gebären. Das ist Teil der Freude an der Mutterschaft. Für die Männer gibt keinen Ausgleich. Sie verletzen andere und rechtfertigen damit ihre Existenz. Und erzählen Sie mir nicht …« – seine Stimme war jetzt sehr sanft, aber er drohte ihr mit dem Finger – »sagen Sie mir nicht, daß ein Mann durch seine Kinder entschädigt wird. Sagen Sie … wird Ihr Mann durch seinen Sohn Peter entschädigt? Nein, auf gar keinen Fall.« Constance antwortete nicht, und er fuhr fort: »Wissen Sie was? Ihr Mann hat Angst vor Ihrem Sohn, und Ihr Sohn verachtet seinen Vater.«
Constance war noch blasser geworden, sie war entrüstet und ärgerlich. Jim hatte womöglich doch Recht. Sie suchte noch nach Worten, um Vin zu unterbrechen, ihn in seine Schranken zu weisen, als er fragte: »Bin … bin ich zu weit gegangen?«
Jetzt endlich konnte sie sagen: »Ich glaube, ja, viel zu weit, Mr. O’Connor. Außerdem wissen Sie gar nicht, wovon Sie sprechen.«
»Nein. Nein, das weiß ich nicht.« Er ließ den Kopf hängen. »Es tut mir Leid. Sehen Sie … ich spreche so selten mit jemandem, und … und hier überhaupt nicht. Dieser Ort ist zu voll von meinen Gedanken. Es … es ist der einzige Ort, wo ich ich selbst sein kann. Sie … Sie hätten nicht hierher kommen sollen. Aber es war nicht Ihr Fehler, sondern, wie immer, der meines Vaters.«
Constance wandte sich ab und ging steif zur Tür. Bevor sie sie jedoch öffnen konnte, war Vincent neben ihr und bat sie: »Bitte, das ändert doch jetzt nichts an Ihrem Verhältnis meiner Familie gegenüber?« Er blickte zum Haus hinüber. »Meine Mutter ist so froh, daß Sie nach Hall gezogen sind! Sie hatte nie Gesellschaft, ich … ich meine, jemand Gleichgesinntes, mit dem sie sprechen kann, jahrelang nicht. Bitte – es wird sich nichts ändern, nicht wahr?« Er beugte sich jetzt zu ihr hinunter, und sie sagte steif: »Nein, nein, natürlich nicht.«
Er öffnete die Tür, und Constance trat in den Hof. Es war niemand zu sehen, und sie ging geradewegs durch das Loch in der Mauer und stieg den Hügel hinauf.
Im Haus verharrte sie eine Weile lang am Fuß der Treppe und zitterte am ganzen Körper. Vincent war ein merkwürdiger Mann:
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