Das Haus in den Dünen
noch erinnern, was Huneke über den Wagen sagte, der Klein und Bergkamp abdrängte?«
»Würzburg, das könnte passen«, antwortete Till.
»Wir müssen mit Bergen reden«, sagte Trevisan. »Er wird wissen, was damals in dem geheimnisvollen Haus in den Dünen geschehen ist.«
*
Sie hatte ihren Leihwagen an der B 72 geparkt und blickte über die grüne und gepflegte Wiese auf das sandfarbene, vierstöckige Gebäude, in dem sich die Chirurgische Abteilung befand. Hinter einem dieser zahlreichen Fenster erholte Holger Bergen sich von einem Schuss, der das eigentliche Ziel verfehlt hatte. Sie würde herausfinden, hinter welchem Fenster. Heute wollte sie erst einmal die Lage sondieren. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid und hatte sich geschminkt, obwohl sie Lippenstift und Make-up hasste. Aber schließlich suchte die Polizei noch immer nach einem Mann. Und so wie sie sich heute hergerichtet hatte, war sie meilenweit davon entfernt, für einen gehalten zu werden. Zudem hatte sie in einem Blumenladen einen schönen Strauß gelber Rosen gekauft. Sie würde niemandem auffallen, wenn sie sich in dieser Verkleidung in das Gebäude begab.
Als sie durch das gläserne Portal trat, empfing sie eine angenehme Kühle. Sie ging am Empfang vorüber, wo zwei Krankenhausangestellte damit beschäftigt waren, den anstehenden Besuchern Auskunft zu erteilen, und orientierte sich an dem großen Wegweiser. Bergen musste entweder in der Station vier oder fünf untergebracht sein. Oder lag er noch auf der Intensivstation?
Sie schlenderte den langen und breiten Gang hinunter. Zwei Krankenschwestern begegneten ihr. Die beiden unterhielten sich angeregt. Der fränkische Akzent der älteren erinnerte sie an zu Hause. Sicherlich, die Welt war ein Dorf, aber ausgerechnet hier auf jemanden aus der Heimat zu treffen, das war schon verwunderlich. Die beiden Krankenschwestern blieben stehen, und so schob sie sich ein wenig näher heran, bis sie das Namensschild auf dem weißen Kittel erkennen konnte. Schwester Karin. Ein Name, den sie sich merken musste, vielleicht würde ihr das eine Chance eröffnen.
Sie blickte sich um und entdeckte einen freien Platz in der Sitzecke neben dem Kiosk. Ein idealer Ort für ihre Beobachtungen. Jeder musste sie für eine Besucherin halten, selbst Polizisten, die in der Nähe patrouillierten. Bislang hatte sie niemanden entdeckt, der ihr verdächtig erschien.
*
Trevisan hatte sich wieder in sein Büro zurückgezogen und studierte die Akte des damaligen Falles. Das Landgericht hatte ein psychologisches Gutachten von Veronika angefordert, das ein namhafter Psychiater und Kinderpsychologe mit Akribie ausgefertigt hatte. Nachdem Trevisan die zehn Seiten starke Abhandlung gelesen hatte, kam es ihm vor, als würde er das Mädchen kennen.
Meistens, so hatte der Psychiater attestiert, schien es, als ob Veronika das Geschehen gar nicht richtig zur Kenntnis genommen hatte.
Offenbar hatten die Schwestern eine besondere Verbindung zueinander gehabt, so wie es landläufig von Zwillingen, dazu noch eineiigen, behauptet wurde. Nachdem Lucia wieder auf dem Weg der Besserung gewesen war, war Veronika ihr nicht mehr von der Seite gewichen. Ihre Eltern, bürgerliche und sehr gläubige Menschen, hatten sie gewähren lassen. Und so hatte Veronika sich zur Fürsprecherin ihrer Schwester entwickelt, die, gezeichnet von dem Brand und mit einer Hirnschädigung durch den Sauerstoffmangel infolge einer Rauchgasvergiftung, auf dem geistigen Entwicklungsstand eines Kindes stehen blieb. Veronika kümmerte sich um ihre Schwester. Vielleicht war auch das der Beweggrund dafür, dass man das Verfahren nach knapp einem Jahr gegen Auflagen eingestellt hatte.
Als Trevisan die damaligen Vernehmungsprotokolle gelesen hatte, waren am Ende mehr Fragen offen, als letztlich hatten beantwortet werden konnten. Offenbar litt Veronika unter einer Amnesie und konnte das Geschehen auf Langeoog im Mai 1981 nur bruchstückhaft wiedergeben. Der Psychologe führte dies auf eine traumatische Verletzung ihrer seelischen Integrität zurück, deren Folge ein unbewusstes Löschen der Erinnerung an diesen tragischen Abend war. Eine ganz normale, unterbewusste Schutzfunktion, die insbesondere bei jüngeren Menschen nicht unüblich war. Ansonsten bescheinigte er ihr eine übliche charakterliche Reife und eine positive Entwicklung.
Trevisan missfiel es, die Arbeit der Kollegen zu kritisieren, jedoch hatte der sachbearbeitende Kollege einige aus kriminaltaktischer Sicht
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