Das Haus in den Wolken
verärgert.
»Für mich. Für dich natürlich nicht. Wenn ich dir den Schmerz nehmen könnte, würde ich es tun, aber ich kann es nicht.« Sie holte tief Luft. »Richard, ich habe stets versucht, dir eine gute Ehefrau zu sein. Ich habe alle gesellschaftlichen Anlässe ertragen, wie sehr ich sie auch verabscheue; ich habe in einer Stadt gewohnt, die mir nicht gefällt, weil ich immer wusste, wie viel ich dir schulde und wie sehr ich dich liebe. Doch ich kann dir nicht die Kontrolle über meine Gedanken gewähren. Es würde nichts mehr von mir übrig bleiben, wenn ich das täte. Dürfte ich wählen, so würde ich mir wünschen, dass du mir verzeihst. So wie ich dir in der Vergangenheit schon oft verziehen habe. Kannst du mir verzeihen?«
»Nein«, sagte er leise.
Einen Augenblick lang schloss sie die Augen. »Dann werde ich morgen nach Cornwall fahren.«
»Tu, was du willst. Das geht mich nichts mehr an. Fahr nach Cornwall â oder fahr von mir aus gleich zur Hölle.«
Am folgenden Tag verlieà Richard, nicht ohne seinem Anwalt gewisse Anweisungen dazulassen, London und unternahm eine ausgedehnte Geschäftsreise ins Ausland.
In Porthglas dachte Isabel an ihr Kind. Ihr erstes Kind. Sie hatte das Haus der Clarewoods verlassen, als sie im sechsten Monat schwanger war und ihren Zustand nicht länger verbergen konnte, und war nach London gegangen. Wohin sonst hätte ein Mädchen wie sie, ein Mädchen in Schwierigkeiten, gehen sollen? Während der Zugreise hatte sie aus dem Abteilfenster gesehen und gestaunt, dass auf der Fahrt in die Stadt hinein die Reihen von Häusern und Fabriken schier kein Ende nehmen wollten.
Sie hatte den alten Ehering ihrer Mutter getragen und den wenigen Leuten, die nachfragten, erklärt, sie sei Witwe. Sie suchte nach dem billigsten Zimmer in der billigsten Pension und fand es in Stepney im East End. Und sie hatte Glück, denn sie fand auch eine Heimarbeit, bei der sie Kragen und Manschetten für Damenblusen besticken musste. Ihre Anzeige setzte sie in die Zeitung Exchange & Mart, und schon bald darauf erhielt sie einen Antwortbrief von einer Mrs. Wellbeloved, der Ehefrau eines Arztes aus Lancaster im Norden Englands. Der Nachname, der für Liebe und Zuneigung stand, schien ihr ein gutes Omen zu sein.
Ihr Kind wurde Ende April geboren, einige Tage früher, als Isabel erwartet hatte. Eine Nachbarin holte die Hebamme, und ihre kleine, vollkommen gewachsene Tochter kam in der Morgendämmerung zur Welt â mit dem Hahnenschrei, wie die Hebamme sagte, wenn es in Stepney denn irgendwelche Hähne gegeben hätte. Das Mädchen war gesund und hübsch mit schwarzem Haar und blauen Augen. Isabel nannte sie Martha, nach ihrer eigenen Mutter. Ein paar Tage darauf schrieb sie Mrs. Wellbeloved und berichtete ihr von der gut verlaufenen Geburt. Ein weiterer Antwortbrief traf ein, und Isabel wurde gebeten, ihre Tochter im Alter von sechs Wochen zum Euston-Bahnhof zu bringen, wo die Wellbeloveds sich mit ihr treffen würden.
Die sechs Wochen vergingen wie im Fluge. Dann schnürte Isabel die Kinderkleidchen in ein Bündel, wickelte Martha in ein Umschlagtuch und machte sich auf den Weg nach Euston, wo sie ihre Tochter den Adoptiveltern übergab. Auf dem Weg nach Hause kaufte sie sich eine Zeitung und studierte die Stellenanzeigen. Sie beschloss, sich auf eine Anstellung als Haushälterin bei einem Mr. Charles Hawkins in Lynton, Devon, zu bewerben, weil sie sich so sehr nach der See sehnte.
Gleich an ihrem ersten Nachmittag in Lynton lief sie, als sie Mr. Hawkins seinen Tee gemacht hatte, den abschüssigen Hügel hinab zum Hafen von Lynmouth und ging auf der Mole bis hinaus zum Rhenish Tower. Dort, umgeben von der weiten See, überkam sie mit aller Macht die Leere, die sie seit dem Abschied von ihrer Tochter empfand, und sie weinte bitterlich und voller Trauer. Vollkommen erschöpft machte sie sich schlieÃlich auf den Weg zurück nach Orchard House. Im Garten blühten Blumen, und das Haus war voller Bücher, und ihr kam der Gedanke, dass sie hier vielleicht endlich eine Zuï¬ucht gefunden hatte. Sie band sich die Schürze um und kochte Mr. Hawkins ein Abendessen, und er besaà die Freundlichkeit, sie nicht auf ihre verweinten Augen anzusprechen und sich stattdessen über andere Dinge mit ihr zu unterhalten.
Während sie jetzt am Strand von Porthglas entlangging,
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