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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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erinnerte Isabel sich jener kostbaren sechs Wochen, die sie mit ihrer Tochter verbracht hatte. Sie erinnerte sich, wie sie in dem Zimmer in Stepney gesessen und das Kind gestillt hatte, vor den Blicken der Außenwelt nur geschützt durch eine vergilbende Zeitungsseite, die sie vor den unteren Teil des Fensters geklebt hatte. Sie erinnerte sich an die Freude, wenn das Kind an ihrer Brust lag, an den kleinen Tropfen Milch im Mundwinkel ihrer Tochter, an ihr seidiges schwarzes Haar. Sie erinnerte sich, dass sie am liebsten ihr Kind genommen hätte und weggelaufen wäre, so weit weg wie nur möglich, weg von allen, die sie kannten, damit sie beide für immer zusammenbleiben könnten.
    Â»Das habe ich getan«, schrieb sie an Richard. »Verdamme mich, wenn du musst, aber das habe ich getan.« In ihrem Brief schilderte sie ihm alles – die Clarewoods, Alfie, London, die Geburt ihrer Tochter und die Trennung von ihr. Sie schüttete ihm ihr Herz aus.
    Als Antwort erhielt sie ein Schreiben von Richards Anwalt. Mit nüchternen juristischen Worten erklärte er ihr, dass ihr Ehemann ihn angewiesen habe, ein Bankkonto auf ihren Namen zu eröffnen und jeden Monat zur Deckung ihrer Lebenshaltungskosten eine gewisse Summe darauf zu überweisen.
    Isabel warf den Brief ins Kaminfeuer. Dann schrieb sie ihm noch einmal. »›Deine Vergangenheit geht mich nichts an.‹ Das waren Deine Worte an jenem Tag, als ich Deinen Heiratsantrag annahm. Hast Du das vergessen, Richard? Hältst Du Deine Versprechen nicht?«
    Es dauerte einige Wochen, bis sie darauf eine Antwort erhielt. Diesmal war der Briefumschlag von Richards eigener Hand adressiert. Auf dem Briefbogen stand nur ein einziger Satz: »Das war, als ich Dich liebte.«

    Die Welt befand sich in Aufruhr, Menschen wurden von hier nach dort gestoßen, verschleppt und an fremden Orten abgesetzt. Nach dem Gewaltausbruch der »Kristallnacht« im November 1938, als Geschäfte deutscher Juden zertrümmert und geplündert, Synagogen zerstört und Hunderte von Juden ermordet wurden, begann ein Massenexodus von Flüchtlingen aus Deutschland, die sich zu all jenen gesellten, die bereits vor den Regimen Hitlers und Mussolinis und vor dem Spanischen Bürgerkrieg geflohen waren. Ruby sah sie in Pubs, Cafés und Bibliotheken, die in abgetragene Mäntel gehüllten italienischen Musiker oder Studenten aus Berlin. Die Zeitungen waren voll von Geschichten über Flüchtlinge, die gezwungen waren, ihre Heimat auf dem Seeweg zu verlassen, und auf der Suche nach einem sicheren Hafen ein ums andere Mal von Hafenbehörden abgewiesen wurden. Die Boulevardblätter hetzten gegen die Flut von Ausländern, die den Einheimischen die wenigen Arbeitsplätze, um die sie selbst seit nunmehr einem Jahrzehnt kämpfen mussten, auch noch wegnehmen würden.
    Einige von Rubys Freunden hatten London bereits verlassen und kämpften aufseiten der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg. Andere waren zur Königlich-Britischen Luftwaffe gegangen. Jüdische Freunde, Wissenschaftler und Schriftsteller, die sich infolge der politischen Umstürze in den Dreißigerjahren in London wiedergefunden hatten, sandten ängstliche Blicke über den Ärmelkanal, kauften sich Schiffsfahrscheine nach New York, gaben Ruby zum Abschied einen Kuss und versprachen zu schreiben.
    Sara und Anton bewohnten ein Zimmer in einem Haus, das inmitten des Gewirrs von Straßen hinter dem Euston-Bahnhof lag. Morgens erwachte Sara vom Hufgeklapper des Pferdes, das den Milchwagen zog, und von den eilenden Schritten der Fahrgäste, die ihren Zug nicht verpassen wollten. Ihr Blick fiel auf Anton, der neben ihr schlief. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und fragte sich, ob sie ihn wohl allein dadurch wecken konnte, dass sie ihn ansah. Als seine Augenlider sich tatsächlich bewegten, lachte sie voll Freude auf, und er zog sie an sich und küsste sie.
    Anton zeigte ihr sein London, ein ganz anderes London als jenes, das Sara aus ihrem bisherigen Leben kannte. Seine Freunde, von denen viele Flüchtlinge waren und in den ärmeren Stadtteilen Londons lebten, wurden auch zu ihren Freunden. Es waren Journalisten und Dramatiker, Gewerkschafter und Volkswirte, Musiker und Wissenschaftler, und die meisten von ihnen lebten jetzt von der Hand in den Mund. Viele der Frauen arbeiteten als Hausangestellte. Ihre Geschichten von Eltern, die, allen

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