Das Haus in den Wolken
London. Ihr geï¬elen die Ordnung und Geruhsamkeit ihres neuen Heims, und sie konnte sich stets erneut daran freuen, dass all ihre Sachen immer genau dort liegen blieben, wo sie sie hingelegt hatte â keine verlegten Scheren oder Klebstoffe mehr, keine benutzten Tassen oder Gläser, die im Wohnzimmer oder im Garten herumstanden. Ihre vornehmen Kleider hingen verloren im Schrank, keines Blickes mehr gewürdigt, und nur selten öffnete sie die Schmuckschatulle. Ach, und die Erleichterung, kein Hauspersonal mehr zu haben, nicht ständig diesen wachsamen, kritischen Blicken ausgesetzt sein zu müssen, die täglichen Besorgungen nicht mehr gedämpft in der Küche diskutiert zu hören. Mrs. Spry betrachtete sie nicht als Hausangestellte; sie nannten einander beim Vornamen und waren Freundinnen geworden, die gemeinsam arbeiteten und sich miteinander unterhielten.
Und weil sie nun frei war, versuchte sie, nach so langer Zeit etwas über das Kind in Erfahrung zu bringen, das sie vor so vielen Jahren weggegeben hatte. Sie schrieb einen Brief an die Wellbeloveds in Lancaster und bat um Nachricht über ihre Tochter. Die Adresse wusste sie immer noch auswendig â sie hatte sich damals geradezu eingebrannt in ihr Gedächtnis.
Einige Tage später kam der Brief, ungeöffnet, zurück, mit dem Vermerk »Unbekannt verzogen« auf dem Umschlag. In der folgenden Woche reiste Isabel nach Lancaster. Sobald sie die Stadt erreicht hatte, machte sie sich auf den Weg zum Haus der Wellbeloveds. Nachforschungen ergaben, dass die Familie schon vor langer Zeit, während des GroÃen Krieges, fortgezogen war. Nein, sagte eine Nachbarin zu Isabel, sie wisse nicht, wohin die Familie gegangen sei. Ja, an die Tochter der Wellbeloveds erinnere sie sich noch, so ein hübsches, schwarzhaariges kleines Mädchen.
Fragen an andere Nachbarn und die örtlichen Ladenbesitzer ergaben auch nicht mehr. Isabel stieg wieder in den Zug Richtung Süden, und als sie im Abteil saÃ, erkannte sie, wie hoffnungslos diese Suche war. Sie hatte keinen Anhaltspunkt, wohin die Wellbeloveds gegangen waren, vielleicht hatten sie das Land verlassen oder waren sogar schon gestorben. Und wie sollte sie ihre Tochter ï¬nden, wenn sie nicht einmal ihren Namen wusste? Die Wellbeloveds hatten ihrem Adoptivkind sicher einen anderen Vornamen gegeben. AuÃerdem hatte ihre Tochter, die jetzt Anfang dreiÃig war, vermutlich geheiratet und daher auch ihren Nachnamen gewechselt. Abends im Bett streckte sie den Arm nach Richard aus; sie vermisste ihn mit einer wilden Trauer, die sie tagsüber zu verbergen vermochte vor lauter Wut darüber, dass er nicht für sie da war in einer Zeit, in der sie den Trost seiner Stärke und Gewissheit am dringendsten benötigt hätte.
Doch es half ihr, eine Entscheidung zu treffen. Es mussten noch Papiere unterschrieben werden, die ihren neuen Status als von Richard Finborough getrennt lebende Ehefrau festschrieben. Isabel machte einen Termin beim Rechtsanwalt in der Throckmorton Street und nahm den Zug nach London. Als sie einen Tag vor ihrem Anwaltstermin am Bahnhof Paddington eintraf, fuhr sie mit der U -Bahn zum Sloane Square und ging von dort zu Fuà bis zum Cheyne Walk.
Nach den Wochen in Cornwall wirkte London grell, laut und überfüllt auf sie. Am Royal Hospital in Chelsea blieb sie eine Weile stehen und stellte ihre kleine Reisetasche ab. Nein, sie hatte keine Angst, dachte sie. Sie bedauerte nur, es nicht schon viel früher getan zu haben. »Jenniferâ¦Â«, ï¬Ã¼sterte Isabel vor sich hin. »Jennifer Finborough.« Was für ein schöner Name. Ein Name aus Cornwall, natürlich, eine Variante des alten englischen Vornamens Guinevere. Das Mädchen war im September geboren worden, aber sie, zu unnachgiebig und stolz, hatte das Kind nicht sehen wollen und so die ersten kostbaren Lebensmonate ihrer Enkelin versäumt.
Sie hatte zu viele Trennungen in ihrem Leben erduldet, das durfte nicht andauern. Vielleicht würden eine Enkelin â und eine Schwiegertochter, an die zu denken sie eine gewisse Ãberwindung kostete, ihr das Herz leichter machen. Und wenn sie nicht wenigstens versuchen würde, Elaine zu mögen, würde sie Philip auf immer verlieren, das wusste sie jetzt.
Im Cheyne Walk blieb Isabel vor dem Haus von Philip und Elaine stehen. Dann klopfte sie an die Tür.
Im März 1939 besetzten deutsche Truppen die sogenannte
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