Das Haus in den Wolken
Rest-Tschechei, die sich gegen diesen Ãbergriff nicht zu wehren vermochte. In den Tagen direkt nach dem Einmarsch wurden fünftausend Tschechen inhaftiert. Zwei Wochen später gaben die englische und die französische Regierung eine ofï¬zielle Garantieerklärung für die Unabhängigkeit Polens ab. Im April wurde in London ein Gesetz ins Parlament eingebracht, das erlaubte, alle Männer ab dem vollendeten zwanzigsten Lebensjahr in die Armee einzuziehen. Viele von Rubys Freunden und deren jüngere Brüder meldeten sich freiwillig. In Nineveh befreite die Armee George Drake aus Maude Quinns tyrannischem Regime.
Jeden Abend auf dem Nachhauseweg kaufte Ruby eine Zeitung und suchte sie nach neuen politischen Allianzen, Pakten, Garantieerklärungen und Drohungen ab. Lewis sah sie nur gelegentlich einmal eine halbe Stunde in irgendeiner Bar oder in seiner Wohnung; wegen seiner Arbeit lieà sich nie vorhersagen, wann und wo diese Treffen stattï¬nden würden. Sperrballons glänzten am Himmel, und Flugblätter mit amtlichen Informationen ï¬elen durch Briefschlitze: »Brandschutz in Kriegszeiten«, »Ihre Gasmaske«, »So verdunkeln Sie richtig«. Vor Luftschutzbunkern wurden Sandsäcke gestapelt, in StraÃen und Parks Unterstände aufgebaut und in Gärten, unter Rasen und Blumenbeeten, Anderson-Bunker angelegt. In Chelsea fand eine Zivilschutzübung statt, Sirenen heulten, und Passanten wurden in von Seilen umzäunte Bereiche getrieben.
Ein heiÃer, trockener August folgte. Zum groÃen Entsetzen von Ruby und ihren kommunistischen Freunden unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion am dreiundzwanzigsten einen Nichtangriffspakt. Telegramme wurden versandt, Reservisten eingezogen, Urlauber verlieÃen Pensionen und Hotels und ï¬ohen nach Hause. Das Parlament wurde aus der Sommerpause gerufen, die Flotte mobilisiert und Evakuierungspläne in die Tat umgesetzt. Anderthalb Millionen Kinder und ihre Lehrer sowie Mütter und Kleinkinder wurden in Bussen oder Schiffen um die Südküste herumgefahren und in Seebädern oder kleinen Dörfern auf dem Lande untergebracht, weit entfernt von den Zentren der drohenden Bombardierungen. Als sie an diesem Freitag zur Arbeit ging, sah Ruby sie, die kleinen, an Busfenster gepressten Kindergesichter, die langen Schlangen von Kindern auf dem Weg zu Londons Bahnhöfen. Ihre Namen standen auf Kofferschildern, Schulblazern und Pullovern, und sie hatten alle ihre Gasmaske dabei und kleine Koffer, Rucksäcke oder Kissenbezüge mit ihren Habseligkeiten. Im Bahnhof ermahnten Lautsprecher die Kinder, unverzüglich ihre Plätze einzunehmen und nicht mit den Zugtüren zu spielen. Einige weinten zwar, aber die meisten schienen aufgeregt zu sein. Doch die Mütter, die ihren Söhnen und Töchtern zum Abschied hinterherwinkten, waren bleich und erschüttert, und als sie sich umdrehten und den Bahnhof verlieÃen, glitzerten in ihren Augen Tränen.
An diesem Tag marschierten deutsche Truppen in Polen ein, und die Luftwaffe bombardierte Warschau. Zwei Tage später, am Morgen des 3. September 1939, wurde das englische Volk aufgefordert, sich eine Radioansprache des Premierministers anzuhören. In der Wohnung herrschte Stille, während Ruby wusch, bügelte und aufräumte. Nur die Geräusche entfernter Radios in anderen Zimmern des Gebäudes waren zu hören, das schwache Auf und Ab im Tonfall, das wie Wespengesumm klang. DrauÃen die gewitterschwüle, staubige Hitze. Drinnen ein Strauà Chrysanthemen in der Vase, im Waschwasser dümpelnde Strümpfe, die Schreibmaschine, unbenutzt, denn heute konnte sie nicht schreiben, das Bügeleisen, das über Baumwolle und Leinen glitt, und das Radio natürlich mit der angespannten, kultivierten Stimme Neville Chamberlains, der ihnen sagte, dass sie sich jetzt mit Deutschland im Krieg befanden.
Richard stand im Salon, als im Radio die Nationalhymne erklang, und dachte daran, was der letzte Krieg seiner Generation angetan hatte. Er dachte an seine Schulfreunde, die nie aus Flandern zurückgekehrt waren, an Major Woods, an Nicholas Chance natürlich und seinen wahnsinnigen Lauf zu den englischen Schützengräben, an Lieutenant Buxton, den er nur eine Woche gekannt hatte und der in seiner Erinnerung ewig fortlebte als ein blonder, blutüberströmter Schopf. Er dachte an Freddie McCrory mit dem aufgesteckten, leeren
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