Das Haus in den Wolken
Kunstausstellung.
Richard nahm sie mit ins Geschäftsviertel von London, zu der kleinen Knopfmacherei und zu der neuen Fabrik, in der Tee verpackt wurde. Eines Nachmittags gingen sie in den Hafen, an den Butlerâs Wharf, wo Hafenarbeiter Teekisten von einem Schiff luden. Sie sah, wie gern Richard Menschen um sich hatte, wie sehr er es genoss, wie leicht es ihm ï¬el, sich mit Angehörigen jeden Standes zu unterhalten, angefangen von den Frauen, die in seinen Fabriken arbeiteten, bis hin zu den wichtigen Geschäftsleuten, mit denen sie dinierten.
Sie lernte, sich unter Menschen zu bewegen, die Luxus und Bequemlichkeit als ihr Anrecht betrachteten. Sie ging zu groÃen Gesellschaften und auf Bälle, saà an einem Tisch mit Damen von Adel, Financiers und Unternehmern und sah die Pferderennen in Ascot und die Ruderregatta in Henley. Im Theater thronte sie in einer mit roten Samtvorhängen und vergoldeten Putten geschmückten Loge über der Bühne, und stets fühlte sie sich wie ausgestellt.
Es war ihr verhasst. Sie wusste, dass sie aufï¬el, weil sie anders war. Die Gewohnheiten und Gebräuche der neuen Welt, in der sie sich wiederfand, verwirrten sie und schlossen sie aus. Sie wusste, dass sie sich kultiviert ausdrücken konnte, aber es fehlte ihr eben doch diese besondere Art, die Vokale hinunterzuschlucken, die vom Adel gepï¬egt wurde. Wenn sie bei irgendwelchen feinen Leuten bei Tisch saÃ, musste sie ohne Zögern, um sich nicht zu verraten, aus ganzen Sortimenten von Silberbesteck, Porzellantellern und Kristallgläsern um sich herum das jeweils richtige Stück wählen. Sie musste aufstehen, wenn die Gastgeberin aufstand und das Esszimmer verlieÃ, und dies genau nach der Dame, nach der sie eingetreten war. Vermutlich bemerkten alle anderen Gäste ihre Fehler und durchschauten trotz der eleganten Kleider und des Schmucks, wohin sie wirklich gehörte. Sie meinte zu hören, wie sie ï¬Ã¼sternd über sie sprachen. Wo um Himmels willen hat Richard denn diese kuriose Person aufgetrieben? Hübsch ist sie ja, aber doch nicht ganz das Richtige.
Auf Terrassen und in Salons hielt sie ihr Glas Roséchampagner Oeil de Perdrix gegen das Licht und sah, wie er die Farbe wechselte und rubinrot schimmerte. Auf den groÃen Gesellschaften häuften sich auf von Brennern warm gehaltenen Frühstücksplatten dunkelrote Nierchen und goldgelbe Reisgerichte mit Fisch und Eiern. Beim Dinner schwenkten die Diener Damastservietten, wenn sie Austern, Steinbutt, Wild, Pasteten, Desserts, Früchte und Champagner servierten. Was man aÃ, war verfremdet, mit französischem Namen versehen, mit Kräutern garniert, in SoÃen getaucht, von geschlagener Sahne umhüllt. Aus einer Ananas war ein Boot mit einem Gelatinesegel geworden, Baiserschwäne schwammen auf spiegelndem Glas. Auch sie präsentierte sich der Welt als eine andere, war genauso sehr Kunstwerk wie diese verzierten, pompösen Desserts. Ihr wurde der Mund trocken vor Nervosität, wenn sie Gespräche führte über Menschen, denen sie nie begegnet war, über Orte, die sie nie besucht hatte. Ihr fehlten die Jahre der Erziehung und der Gewöhnung, die all die anderen gehabt hatten; ihre Tugenden â Sparsamkeit, Ausdauer, Eigenständigkeit â waren hier fehl am Platz.
Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass sie für diese Menschen, mit denen sie umgehen musste, trotz all ihrer eigenen Nervosität nur Geringschätzung empfand. Sie verachtete ihre frivolen Gespräche, ihre Unkenntnis der wirklichen Welt und ihre lächerlichen, verschwenderischen Gewohnheiten. Wie töricht, jeden Tag drei- oder viermal das Kleid zu wechseln! Wie albern, einen Pï¬rsich mit Messer und Gabel zu essen, statt ihn in die Hand zu nehmen! Die Verschwendung auf diesen Gesellschaften schockierte sie, all diese nicht geleerten Teller, diese Berge toter Moorhühner nach einem Jagdtag.
Andere Entdeckungen schockierten sie sogar noch mehr. Eines Abends, als die Gäste sich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, hörte sie Schritte auf dem Flur und Gelächter, als eine Schlafzimmertür geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde.
»Sie sind schon seit Jahren ein Liebespaar«, sagte Richard, als sie ihm von ihrem Verdacht erzählte. »Jeder weià es.«
»Aber sie sind nicht miteinander verheiratet.« Es war nicht nur der Schock, Isabel empfand Abscheu.
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