Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
starrte sie feindselig an, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet.
«Sie sind doch das Dienstmädchen von den Steins», sagte sie schließlich mit deutlicher Abneigung und Herablassung in der Stimme. «Ein Dienstmädchen ist keine Gouvernante.»
«Aber Fräulein Ricarda …», rief Jakob erschrocken. Die unverschämte Art des Mädchens war ihm sichtlich peinlich.
Pauline signalisierte ihm, den Raum zu verlassen. Dann wandte sie sich dem Mädchen zu. «Du hast recht, Ricarda. Ich habe eine Weile im Haushalt der Familie Stein gearbeitet. Jetzt hat mich dein Vater als Erzieherin für dich und deinen Bruder eingestellt.»
«Ich brauche keine Erzieherin.»
Pauline lächelte. «Da, fürchte ich, irrst du dich, mein Kind.»
«Ich bin nicht Ihr Kind.» Ricarda funkelte sie wütend an. «Sobald Papa nach Hause kommt, sage ich ihm, er soll Sie wieder wegschicken. Wir brauchen hier kein weiteres Frauenzimmer im Haus. Das hat er selbst gesagt.»
Ohne sich ihre Überraschung über die Frechheit des Mädchens anmerken zu lassen, erklärte Pauline: «Vielleicht hat er das früher einmal gesagt. Doch nun hat er seine Meinung geändert, weil er weiß, dass ihr beide, ganz besonders du, weiblicher Anleitung bedürft. Auch möchte er, dass ich euch zusätzlich zu den Schulstunden noch in weiteren Fächern unterrichte.»
Kurz flackerte Interesse in Ricardas Augen auf, bevor sie aufsprang und mit wütenden Schritten im Speisezimmer auf und ab ging. «Ich sage ihm, er soll Sie wegschicken», wiederholte sie stur. «Sie haben hier gar nichts verloren. Und bilden Sie sich ja nicht ein, Sie könnten meine Mama werden. Meine Mama ist tot, und Papa braucht keine neue Frau.»
Verblüfft blickte Pauline die zornige kleine Person an. Ricardas schwarze Locken, die am Morgen wohl einmal zu einem festen Zopf geflochten gewesen waren, schienen sich aus der Frisur befreien zu wollen. Mehrere Strähnen ringelten sich wild um ihr Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet, das Kinn trotzig vorgeschoben.
Pauline zählte langsam bis fünf, bevor sie antwortete: «Hör zu, Ricarda: Es war niemals die Rede davon, dass ich deine verstorbene Mutter ersetzen soll. Ich bin hier, um dich anzuleiten und in deinen gesellschaftlichen Fähigkeiten auszubilden. Du und dein Bruder, ihr seid schon sehr lange ohne Erzieherin, und das tut euch nicht gut. Ihr müsst lernen, euch zu benehmen, denn wenn ihr einmal erwachsen seid, wird man sehr viele Dinge von euch erwarten.»
«Ich werde nicht erwachsen. Und wenn doch, dann gehe ich fort. Nach Indien oder Amerika oder … oder Ägypten.»
Nun musste Pauline doch ein Schmunzeln unterdrücken. «Dann hoffe ich, du sprichst die Sprachen jener Länder und weißt über die dortigen Bräuche Bescheid?» Als Ricarda nicht sogleich antwortete, fuhr sie fort: «Selbst wenn du eines dieser Länder – oder auch alle – bereist, wirst du nicht umhinkommen, dich vorher ein wenig über die Welt und ihre Begebenheiten kundig machen zu müssen. Und auch in Amerika oder Indien – ja, sogar in Ägypten legt man großen Wert darauf, dass sich eine junge Dame in Gesellschaft zu benehmen weiß. Und wenn du einmal heiratest, wird dein Ehemann ebenfalls viele Dinge von dir verlangen. Er wird erwarten, dass du weißt, wie man einen Haushalt führt, Gäste bewirtet, die Dienstboten anleitet … All dies und noch vieles mehr solltest du lernen, bevor du dich auf Weltreise begibst. Und dein Bruder scheint ebenfalls noch einigen Schliff zu benötigen.»
«Lassen Sie Peter in Ruhe!» Ricarda blieb vor Pauline stehen. «Er ist noch klein.»
«Er ist sieben Jahre alt.»
«Er will Sie auch nicht hier haben.»
Pauline seufzte. Allmählich zerrte die rigorose Abwehrhaltung Ricardas an ihrer Geduld. «Er wird daran ebenso wenig ändern können wie du, Ricarda. Ich schlage also vor, dass wir einen Waffenstillstand schließen, bis wir einander etwas besser kennengelernt haben.» Da das Mädchen erneut zu einer heftigen Erwiderung ansetzen wollte, fügte Pauline rasch hinzu: «Ich verspreche dir auch, dass ich ganz bestimmt nicht vorhabe, deinen Vater zu heiraten. Er hat mich als Gouvernante für euch eingestellt, nicht mehr und nicht weniger. Und dabei wird es auch bleiben.»
Ricarda blickte ihr lange prüfend ins Gesicht. Es schien, als wöge sie Paulines Worte ab, um zu entscheiden, ob sie der Wahrheit entsprachen. «Versprochen?», fragte sie schließlich etwas ruhiger.
«Ehrenwort.» Pauline streckte die Hand aus.
Ricarda ergriff sie
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