Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
jedoch nicht, sondern verließ sofort das Speisezimmer.
Pauline atmete tief durch. Das war ganz offensichtlich nicht der beste Anfang gewesen.
«Die beiden meinen es nicht so.» Jakob kam mit betretener Miene auf den Tisch zu. «Seit die gnädige Frau … verstorben ist, sind die beiden außer Rand und Band. Der gnädige Herr war lange Zeit zu nachsichtig mit ihnen, fürchte ich.»
«Frau Reuther hat sich das Leben genommen, wie ich hörte», wagte Pauline nachzufragen. Normalerweise sprach man über solche Angelegenheiten nicht, doch in diesem Fall schien es ihr angebracht, so viele Informationen wie nur möglich über ihre beiden neuen Schützlinge zu sammeln.
Jakob zögerte sichtlich. «So ist es. Die Kinder hatten es nie leicht, auch nicht zu Lebzeiten der gnädigen Frau. Ich bin nicht befugt, Ihnen mehr zu sagen, aber ich bitte Sie, lassen Sie sich nicht von den beiden verschrecken. Es sind im Grunde sehr liebenswerte Kinder.»
«Das bezweifele ich nicht.»
Jakob lächelte erleichtert. «Sie sind ein bisschen schwierig und Fremden gegenüber misstrauisch.»
«Und vorlaut.»
«Das leider auch.» Jakob seufzte. «Herr Reuther zahlt Ihnen vermutlich einen fürstlichen Lohn.» Verlegen rieb er sich das Kinn. «Nun haben Sie einen Vorgeschmack, warum er das tut.»
***
Pauline war der Appetit vergangen. Sie verließ das Speisezimmer und begab sich ins Obergeschoss, um bei Peter nach dem Rechten zu sehen. Sie fand ihn in seinem Schlafzimmer, wo er auf dem Fußboden saß, den Rücken gegen sein Bett gelehnt, und mit einem geschnitzten Holzpferdchen spielte.
Sie klopfte leise an und trat ein. In einiger Entfernung von Peter blieb sie stehen, der seinen Blick stur auf das Spielzeug gerichtet hielt. Schweigend blickte sie ihn an.
Nach einer Weile schien ihm die Stille unheimlich zu werden. Neugierig hob er den Kopf. «Ich habe nichts angestellt.»
Pauline trat einen kleinen Schritt auf ihn zu. «Das habe ich auch nicht angenommen.»
«Sind Sie jetzt hier, weil ich das mit der Kanone gemacht habe?»
Im ersten Impuls wollte Pauline widersprechen, doch dann dachte sie über seine Worte nach und antwortete: «Da liegst du gar nicht so falsch.»
«Kriege ich jetzt noch mehr Schimpfe?»
«Nein.»
Peters Kopf, der sich zwischenzeitlich wieder gesenkt hatte, ruckte hoch.
Pauline lächelte ihm zu. «Ich bin hier, weil ich dir ein paar Dinge beibringen soll.»
«Ich gehe schon zur Schule.» Sein trotziger Tonfall ähnelte nun dem Ricardas.
«Manche Dinge lernt man nicht in der Schule.» Pauline machte noch einen Schritt vorwärts. «Ein schönes Pferdchen hast du da.»
«Das ist ein Schlachtross.»
«Wie bei den alten Rittern?»
Peter drehte das Holzpferd zwischen den Fingern und nickte. «Herr Stresemann hat uns von den Rittern vorgelesen.»
«Herr Stresemann?»
«Unser Lehrer. Eigentlich war das für die aus der fünften Klasse, aber wir haben natürlich auch mitgehört. Obwohl wir eigentlich Schönschreiben üben sollten.»
«Das war bestimmt eine spannende Geschichte.»
«Ich werde auch mal ein Ritter. Die haben tapfer gekämpft und immer gewonnen. Und dann haben sie auch noch die Witwen und Waisen beschützt.» Peter sah sie mit nachdenklichem Blick an. «Ich bin auch eine Waise. Meine Mama ist tot.»
«Ich weiß. Aber dein Papa ist noch am Leben, also bist du nur eine Halbwaise.»
«Und jetzt sind Sie da und sollen mir alles beibringen, was meine Mama nicht mehr kann, weil sie jetzt im Himmel ist.»
Überrascht legte Pauline den Kopf schräg. Der kleine Junge schien die Situation schnell erfasst zu haben.
«So könnte man es ausdrücken», antwortete sie.
Peter nickte vor sich hin, dann warf er plötzlich das Pferdchen unter sein Bett, stand auf und lief zum Fenster. Mit hochgezogenen Schultern blickte er hinaus. «Ich mag Sie nicht», sagte er leise.
Sprachlos starrte Pauline auf den Rücken des Jungen und überlegte, ob sie darauf etwas erwidern sollte. Schließlich entschied sie sich jedoch dagegen. Leise zog sie sich zurück und ließ Peter in seinem Zimmer allein.
Ein wenig ratlos blickte sie den Flur entlang und entschied sich dann, sich in ihr eigenes Schlafzimmer zurückzuziehen. So einfach und angenehm, wie sie gedacht hatte, würde ihre neue Stellung hier offensichtlich nicht werden.
***
«Fräulein Ricarda, es wird Zeit für unsere Lektionen.» Pauline klopfte an die Schlafzimmertür des Mädchens und trat ein. Ricarda saß an ihrem Toilettentisch und bearbeitete ihr
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