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Das Haus in der Löwengasse (German Edition)

Das Haus in der Löwengasse (German Edition)

Titel: Das Haus in der Löwengasse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Schier
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schön gewesen. Offenbar hatte sie sogar ein eigenes Badezimmer. Das war ein Luxus, den sie bisher nur im Hause ihres Onkels genossen hatte. Rasch stand sie wieder auf und öffnete die schmale Tür zum Badezimmer. Es gab eine Kommode mit Waschschüssel und Wasserkrug. Die Schubladen der Kommode enthielten Seife und Handtücher. Daneben stand ein mit Schnitzereien verzierter Toilettenstuhl. Das schmale Fenster war vergittert und führte, wie das des Schlafzimmers, hinaus auf den Hintergarten und die angrenzenden Grundstücke. Doch der größte Luxus war die auf gebogenen Füßen stehende Badewanne an der rechten Wand. Pauline traten die Tränen in die Augen. Wann hatte sie zuletzt ein Bad genossen? Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und packte rasch ihre Taschen aus. Viele Besitztümer hatte sie nicht: einen Handspiegel, Kamm und Bürste, Haarbänder und -nadeln. Einige wenige Bücher und Schriftstücke aus dem Hause ihres Onkels, sein Porträt in Miniaturform – kaum größer als ihre Hand –, ihre Geldbörse mit dem Ersparten. Außerdem zwei Kleider, die beide nach nur kurzer Zeit im Hause Stein kaum mehr zu retten waren. Dabei waren sie einmal recht hübsch gewesen. Doch Reuther hatte recht. In diesen Kleidern würde sie als Gouvernante der Kinder kein gutes Bild abgeben.
    Neugierig trat sie an den Kleiderschrank. Was für ein Kleid er ihr wohl – für den Übergang, wie er es nannte – zugedacht hatte? Als sie den zweiflügligen Schrank öffnete, stieß sie einen überraschten Laut aus, denn es war nicht nur ein Kleid, es waren sogar zwei. Eines in schlichtem Dunkelblau, mit langen, eng anliegenden Ärmeln, die an den Schultern leicht gepufft waren. Der Ausschnitt war nicht zu tief und leicht oval mit einem duftig leichten, weißen Kragen. Der Rock war schmal und am Saum mit weißen Stickereien verziert.
    Das zweite Kleid war von dunkelbrauner Farbe, der Rock weit und in hübsche Falten gelegt. Die Schultern waren auch hier hübsch gepufft, und die Ärmel bestanden aus durchscheinendem Tüll, der alle Handbreit von einem schmalen Stoffband geziert wurde, das den Arm eng umschloss. Der Ausschnitt dieses Kleides war herzförmig und lief erst an den Schultern aus. Pauline seufzte verzückt. Sanft strich sie über den glänzenden, weichen Stoff, merkte dabei, wie rau ihre Hände vom Arbeiten geworden waren. Es würde eine Weile dauern, bis die Schwielen und rauen Stellen verschwunden waren.
    Obgleich es sie zu dem braunen Kleid hinzog, schien ihr das dunkelblaue für den ersten Arbeitstag angebrachter zu sein. Als sie es aus dem Schrank nahm, fielen ihr auch die drei weißen Unterröcke und die beiden Schnürleibchen ins Auge, die ihr großzügiger Dienstherr ebenfalls für sie besorgt hatte. Röte schoss ihr in die Wangen, als sie in der Kommode weitere Unterwäsche fand. Was musste er nur von ihr denken? Dass sie aus der Gosse kam? Andererseits konnte sie nicht anders, als dankbar für seine Geschenke zu sein. Er schien an alles gedacht zu haben. Im Grunde war mehr Garderobe kaum noch nötig. Doch offenbar war er anderer Meinung, denn sonst hätte er nicht bereits für sie einen Termin bei der Schneiderin vereinbart.
    Erneut ließ sie sich auf die Bettkante sinken. Würde er wirklich keinerlei Gegenleistung für diese teuren Geschenke erwarten? Es war ungewöhnlich, dass ein Dienstherr seine Gouvernante derart umfassend einkleidete – ganz zu schweigen von dem mehr als großzügigen Lohn, den er ihr zugesichert hatte. Seine Worte kamen ihr in den Sinn: Sie werden wahrscheinlich schon bald und mehr als einmal bereuen, in meinen Dienst getreten zu sein. So oder so ähnlich hatte er sich ausgedrückt. Im Augenblick konnte Pauline sich nicht vorstellen, dass sie auch nur eine Minute bedauern würde, die Stelle angenommen zu haben.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 10
    Bereits zwei Stunden später war Pauline kurz davor, ihre Meinung zu ändern. Nachdem Jakob sie durchs Haus geführt und sie das übrige Personal kennengelernt hatte, waren die Kinder von der Schule nach Hause gekommen. Pauline hatte die beiden im Speisezimmer erwartet. Als Jakob sie vorgestellt hatte, war deutlich geworden, dass Julius Reuther seinen Kindern nichts von Pauline erzählt hatte, was ihr sehr befremdlich vorkam.
    Peter hatte sie natürlich sofort wiedererkannt und rannte mit schreckensbleichem Gesicht und ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Seine Schritte polterten auf der Treppe, wenig später knallte eine Tür. Ricarda hingegen

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