Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
Denn dann haben Sie ja erst recht Zeit für einen kleinen nachmittäglichen Ausflug. Bis zum Abendessen sind Sie ja längst wieder zurück.»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Dass ich mich selbstverständlich um die Vorbereitungen der Abendgesellschaft kümmern werde.» Pauline lächelte kühl. «Und Sie werden mit Ihren Kindern einen schönen Tag verleben.»
«So war das aber nicht …»
«Und nun sollten wir uns für den Kirchgang vorbereiten.» Sie wandte sich den Kindern zu, ohne noch weiter auf Julius zu achten. «Seid ihr fertig? Gut. Ich denke, die Frühstückstafel ist hiermit aufgehoben. Lauft nach oben und zieht euch um. Lasst euch von Jakob die warmen Mäntel, Mützen und Schals geben. Es ist sehr kalt heute.»
Die Kinder sprangen sichtlich erleichtert von ihren Stühlen auf und verließen das Speisezimmer. Julius faltete seine Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch. Pauline sah ihm an, dass es in ihm brodelte. War sie zu weit gegangen? Falls ja, konnte sie es nun auch nicht mehr ändern. Sie hatte seit Tagen versucht, Julius mit kleinen, unauffälligen Hinweisen dazu zu bewegen, sich ein wenig mehr an die Tischsitten zu halten, um den Kindern ein Vorbild zu sein. Entweder hatte er es nicht wahrgenommen oder aber einfach ignoriert. Deshalb hatte sie heute beschlossen, ihre Taktik zu ändern.
«Was bilden Sie sich eigentlich ein?» Julius’ Stimme war gefährlich kühl. «Versuchen Sie vielleicht, meine Autorität vor den Kindern zu untergraben?»
«Wie bitte?» Pauline hob empört den Kopf. «Ihre Autorität? Die kann ich gar nicht untergraben, denn dazu müssten Sie sie erst einmal besitzen.»
Verblüfft starrte Julius sie an. «Was?»
Pauline verschränkte die Arme vor der Brust. «Also wirklich! Sie sitzen morgens am Tisch mit den Kindern, stumm wie ein Fisch. Jeden Tag die gleiche desinteressierte Frage, was in der Schule vor sich gehen wird. Dann verschwinden Sie auch schon – auf die unhöflichste Art und Weise, wie ich anfügen möchte. Ich versuche den Kindern beizubringen, dass man erst vom Tisch aufsteht, wenn alle mit dem Essen fertig sind. Wie soll ich das bitte durchsetzen, wenn Sie als Hausherr sich nicht daran halten? Dann sind Sie den ganzen Tag fort, und abends wiederholt sich das Spiel von neuem. Na ja, wenn Sie nicht gerade schmollen und sich ohne Abendessen in Ihr Refugium zurückziehen. Ist Ihnen eigentlich klar, dass in diesem Haus überhaupt kein Familienleben stattfindet? Kennen Sie Ihre Kinder überhaupt?»
Ehe er etwas erwidern konnte, hob sie die Hand. «Ich weiß, dass die meisten Männer es lieber ihren Frauen oder den Gouvernanten überlassen, sich um die alltäglichen Belange des Nachwuchses zu kümmern. Dafür bezahlen Sie mich, das ist in Ordnung. Aber glauben Sie nicht, es wäre angebracht, sich wenigstens ein bisschen für die beiden zu interessieren?»
«Wer sagt, dass ich mich nicht für sie interessiere? Wenn die beiden etwas brauchen, sagen Sie es mir bitte, und ich sorge dafür, dass es beschafft wird.»
«Herr Reuther.» Pauline stand auf und ging zur Tür. «Was Ihre Kinder brauchen, ist ihr Vater.»
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Kapitel 13
Pauline war gerade dabei, den Tisch im Speisezimmer mit Efeuranken und Tannenzweigen zu dekorieren, als sie die Haustür gehen und die Kinder hereinstürmen hörte. Das fröhliche Lachen der beiden wärmte ihr Herz. Lächelnd rückte sie die dicken Wachskerzen zurecht und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Kathrin hatte den Tisch sehr sorgfältig gedeckt, doch hatte Pauline die Dekoration lieber selbst übernommen. In dieser Hinsicht traute sie dem Dienstmädchen nicht allzu viel zu.
«Das war ein gemeiner Angriff aus dem Hinterhalt», ertönte hinter ihr Julius’ Stimme.
Überrascht drehte sie sich zu ihm um. Er stand in der Tür, das Gesicht leicht gerötet von der kalten Luft, der er den Nachmittag lang ausgesetzt gewesen war. Er zog seinen grauen Wintermantel aus und warf ihn achtlos über eine Stuhllehne. Sogleich griff Pauline danach, um das Kleidungsstück Jakob zu übergeben. Doch Julius hielt sie davon ab, indem er nicht eben sanft ihr Handgelenk umfasste. Erschrocken wich sie zurück. In seinen Augen glomm etwas Dunkles, das sie zutiefst irritierte. Seine Miene war finster, dann lächelte er ganz plötzlich. «Ich danke Ihnen», sagte er zu ihrer größten Verblüffung.
«Wofür?» Ihre Stimme schwankte ein wenig. Unbehaglich blickte sie auf seine Hand, die ihren Arm noch immer
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