Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
Weihnachtslieder mit ihnen. Da Peter sich überraschend musikalisch zeigte, jedoch seinem Alter entsprechend abends früh müde wurde, überlegte Pauline, wie sie die Gesangsstunden noch in den geschäftigen Nachmittag schieben konnte, um dem Jungen die Gelegenheit zu geben, seine Stimme weiter auszubilden.
Julius Reuther hatte sich mit keinem Wort darüber geäußert, dass er sein Arbeitszimmer sowie die Bibliothek schließlich entstaubt und geputzt vorgefunden hatte. Pauline hatte auch die Papierstapel auf seinem Schreibtisch geordnet und seine Schreibfedern angespitzt oder durch neue ersetzt. Und sie hatte es irgendwie geschafft – wie, wusste er nicht –, dass sein Morgenkaffee plötzlich unerwartet vollmundig und angenehm schmeckte. Er ließ sie gewähren, sein Haushalt konnte schließlich nur davon profitieren. Allerdings war er sich bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie sich erneut in seine Angelegenheiten einmischen würde. Obwohl er an seinen alten Gewohnheiten hing, war er dennoch insgeheim gespannt, wozu sie ihn wohl als Nächstes überreden würde.
***
«Sitz gerade, Ricarda!», rügte Pauline. «Du bekommst sonst noch einen Buckel. Und du, Peter – nimm die Arme beim Essen an die Seiten. Wenn du weiter so herumzappelst, stecke ich dir zwei Gläser unter die Achseln, die du dort festhalten musst.»
«Das finde ich aber lustig», antwortete Peter grinsend.
«Nur so lange, bis du eines der Gläser fallen lässt. Dafür ziehe ich dir nämlich dann für drei Tage den Nachtisch ab.»
«Oh.» Die Drohung schien zu wirken, denn der Junge hörte sofort auf, auf seinem Stuhl herumzuhopsen.
Pauline nickte zufrieden und musterte dann die Rückseite der Zeitung, denn mehr war an diesem Sonntagmorgen nicht von Julius Reuther zu sehen.
«Gnädiger Herr?»
«Hm?» Er ließ das Blatt nicht einmal sinken.
Pauline verzog missfällig die Lippen. «Herr Reuther, es ist nicht sehr höflich, sich am Frühstückstisch hinter einer Zeitung zu verstecken.» Sie vernahm ein leises Schnaufen und wusste, dass die Kinder einander überrascht ansahen. Aus den Augenwinkeln nahm sie das Grinsen auf ihren Gesichtern wahr. Sie freuten sich sichtlich, dass auch ihr Vater in den Genuss von Paulines Schelte kam.
Julius hatte die Zeitung indes sinken lassen und sah Pauline über den Rand hinweg überrascht an. «Meinen Sie mich?»
«Wen könnte ich sonst meinen?» Sie faltete die Hände auf dem Tisch. «Der Sonntag sollte der Familie gehören – gemeinsamem Essen, Gesprächen, Unternehmungen. Leider ist diese Tradition hier im Hause ein wenig ins Hintertreffen geraten. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, Herr Reuther. Doch Sie sollten sich wenigstens an einem Tag der Woche – jenem, den der Herrgott dafür vorgesehen hat – ein wenig mehr der Familie und dem eigenen Wohlbehagen widmen.»
«Dem eigenen Wohlbehagen?» Es war offensichtlich, dass ihm genau dies im Augenblick vollkommen fehlte.
«Sie werden uns doch sicherlich gleich in die Kirche begleiten, nicht wahr?», fuhr Pauline unbeirrt fort.
«Ah, eigentlich …»
«Da es so schön geschneit hat, habe ich mich gefragt, ob wir nicht am Nachmittag einen kleinen Ausflug machen sollten. Ein Spaziergang im Schnee. Die Bewegung würde uns allen guttun.»
«Ich würde lieber eine Schlittenfahrt unternehmen», mischte sich Ricarda ungefragt ein. Pauline warf ihr einen strafenden Blick zu. «Sei nicht so vorlaut, kleines Fräulein.»
Ricarda zog einen Flunsch, schwieg jedoch.
Pauline wandte sich wieder Julius zu. «Sie sehen, auch die Kinder würden den Tag gerne mit Ihnen verbringen.»
«Ich …» Julius dachte nach. «Ich erwarte heute Abend noch Besuch. Friedrich Oppenheim und seine Frau, das Ehepaar Stein sowie die Schnitzlers.»
«Ach.» Verblüfft starrte Pauline ihn an. Als sie sich dessen bewusst wurde, riss sie sich zusammen. «Es wäre freundlich gewesen, mich darüber in Kenntnis zu setzen.»
«Das habe ich doch hiermit getan.»
«Ich meinte, etwas früher», erwiderte sie und bemühte sich, ihren Ärger nicht zu deutlich zu zeigen. «Wie soll ich in so kurzer Zeit ein Abendessen für so viele Personen vorbereiten?»
«Berthe und Jakob werden sich darum kümmern. Sie haben heute frei, Fräulein Schmitz. So war es ausgemacht.»
«Nicht, wenn wir gesellschaftliche Verpflichtungen haben.» Pauline richtete sich kerzengerade auf. «Also wissen Jakob und Berthe Bescheid.»
«Sagte ich das nicht soeben?»
«Das trifft sich ja sehr gut.
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