Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
sie sich neben ihn und beugte sich in Richtung des Atlasses. Sie streckte die Hand aus und blätterte in dem Buch, bis sie eine Karte fand, die Preußen und die angrenzenden Länder abbildete. «Ich dachte daran, die Kinder mit den Namen der großen deutschen Städte und deren Lage bekannt zu machen. Und mit dem Verlauf der großen Flüsse wie Rhein, Mosel, Donau, Elbe und so fort.»
«Lernen sie das nicht schon in der Schule?» Julius sah sie von der Seite an. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie nah sie nebeneinandersaßen. Sein Geruch stieg ihr in die Nase – herb und männlich, jedoch nicht unangenehm.
Pauline räusperte sich und heftete ihren Blick fest auf die Landkarte. «Peter wird dies sicherlich früher oder später im Schulunterricht zu hören bekommen. Ricarda vielleicht nicht – oder nur sehr rudimentär.»
«Warum glauben Sie das?»
Nun hob Pauline doch den Kopf. «Weil ich selbst einmal in einer Mädchen-Volksschule war. Mein Onkel hat viel Geld bezahlt, um mich in eine weiterführende Mädchenschule schicken zu können, wo mehr Wert auf eine umfassende Bildung gelegt wurde. Die Vorstellungen der Volksschullehrer über das, was Mädchen zu lernen haben, entsprachen nicht denen meines Onkels. Den Ihren ebenso wenig, denn sonst hätten Sie mich nicht angewiesen, Ihre Kinder zu unterrichten.»
Julius hob die Brauen. «Sie brauchen nicht gleich die Krallen auszufahren, Fräulein Schmitz. Ich widerspreche Ihnen ja gar nicht. Im Gegenteil – ich begrüße Ihren Enthusiasmus.»
«Ist das so?»
«Ja – auch wenn das nicht so aussieht. Ich habe Ihnen prophezeit, dass Sie meine Nerven strapazieren werden.» Er hielt kurz inne und musterte sie aufmerksam, bis sie spürte, dass sie errötete. «Tun Sie, was Sie für richtig halten.»
Pauline spürte, wie ihr Herzschlag ins Stolpern geriet, und wäre am liebsten umgehend von ihm abgerückt. Doch das hätte er vielleicht als unhöflich empfunden, deshalb blieb sie, wo sie war, und blickte wieder auf den Atlas. «Dieses Kartenmaterial ist schon etwas veraltet», stellte sie fest. «Es zeigt noch den Grenzverlauf Preußens, wie er vor der französischen Zeit war.»
Julius drehte den Atlas ein wenig, was dazu führte, dass Pauline sich erneut in seine Richtung neigen musste. «Sie haben recht. Dieser Atlas stammt noch von meinem Vater.»
«Nun, zumindest hat sich die Lage der Städte und Flüsse seither nicht verändert», befand Pauline und hielt unvermittelt den Atem an, als er ihr in die Augen blickte. Einen Moment lang sahen sie einander nur an, dann räusperten sie sich beide und rückten voneinander ab.
«Ich werde sehen, ob ich einen neuen Atlas beschaffen kann», sagte Julius. Seine Stimme klang ein wenig belegt. Noch einmal räusperte er sich und fügte brüsk an: «Und nun wäre es sehr freundlich, wenn Sie mich wieder meiner wohlverdienten Abendruhe überlassen würden, Fräulein Schmitz.»
«Aber natürlich. Selbstverständlich.» Pauline sprang auf und eilte zur Tür. «Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Reuther.»
«Die wünsche ich Ihnen ebenfalls … Fräulein Schmitz?»
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
«Strapazieren Sie ruhig weiter meine Nerven. Vermutlich habe ich es nicht besser verdient.» Er lächelte sie offen an.
Pauline stockte der Atem, als sie der Veränderung gewahr wurde, die dieses Lächeln an ihm hervorrief. Es machte ihn heiter, gütig, beinahe sanft. Und es ließ ihr Herz erneut aus dem Tritt geraten.
«Aber stellen Sie sich darauf ein, dass ich es Ihnen mit gleicher Münze heimzahlen werde», fügte er mit einem Blinzeln hinzu.
Ihr fiel keine Antwort darauf ein, deshalb wandte sie sich einfach ab und floh aus dem Zimmer.
***
Die folgenden Tage verbrachte Pauline damit, Kathrin und Berthe beim Hausputz anzuleiten. Sie legte hier und da selbst mit Hand an und zeigte Ricarda, wie ein Staubtuch zu benutzen war. Das Mädchen war nicht allzu begeistert bei der Sache, fügte sich jedoch, da sie am späten Nachmittag mit einer oder zwei Unterrichtsstunden für die erlittenen Qualen entschädigt wurde. Peter musste zwar nicht bei der Hausreinigung helfen, doch Pauline hatte auch ihm verschiedene Aufgaben zugewiesen. Hauptsächlich sollte er mit einfachen Handreichungen Jakob zur Hand gehen. Der Hausdiener zeigte sich überrascht von dieser Vorgehensweise, da er den Jungen gern mochte, hatte er keine Einwände.
In der Stunde nach dem Abendessen setzte sich Pauline mit Ricarda und Peter zusammen und übte
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