Das Haus in Georgetown
drang eine Frauenstimme zu ihnen herüber. „Es wird Zeit, dass du dir das mal ansiehst, Lyddy. Bevor die Stadt es für unbewohnbar erklärt.“
Faith bemerkte, wie Lydia neben ihr erstarrte, und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Es dauerte eine Weile, bis sie die dazugehörige Person ausfindig gemacht hatte. Die Frau stand an einem der hohen Fenster im ersten Stock, hinter einem Eisengeländer. Sie wirkte so alt wie ein Richter am Obersten Bundesgericht und so schamlos wie gewisse Praktikantinnen im Weißen Haus. Obwohl es schon Nachmittag war, trug sie einen knallbunten Morgenrock über ihrem Nachthemd – zumindest hoffte Faith, dass die Frau ein Nachthemd anhatte – und auf dem Kopf einen farblich passenden Turban.
„Beachte sie nicht“, murmelte Lydia. „Sie gehört zu der Art von Frauen, die man seinen Kindern besser nicht vorstellt.“
Mit lauterer Stimme fuhr sie fort, als hätte sie die Nachbarin überhaupt nicht gehört: „Ich werde die Vermietungsgesellschaftverklagen. Das ist eine Schande. Sie haben die Verantwortung übernommen, und mir hat keiner etwas gesagt.“
Als die Frau vom Fenster verschwand, wandte Faith ihre Aufmerksamkeit zögerlich wieder dem Haus zu. „Wann bist du zum letzten Mal hier gewesen?“
„Seit damals? Nie mehr. Warum sollte ich? Ich habe diese Leute mit der Verwaltung betraut. Hast du gedacht, ich würde mit den Mietern verkehren?“
Faith war an Lydias Sarkasmus gewöhnt. Sie wollte glauben, dass sich irgendwo im versteinerten Herzen ihrer Mutter ein mitfühlendes Wesen verbarg, dass hinter ihrer strengen Selbstdisziplin und den immens hohen Erwartungen an andere irgendwo eine warmherzigere, tolerantere Frau kauerte. Manchmal meinte Faith, Hinweise darauf erkennen zu können.
Schließlich hatten die Hudsons ihre Tochter nicht ohne Grund Faith, also Glaube, genannt!
„Schau dir die Tür an! Den Garten!“ Lydia schüttelte den Kopf.
Faith hatte keine andere Wahl, als hinzusehen. Das Haus hatte drei Geschosse und die Breite eines Zimmers. Wie bei vielen der Nachbarbauten war die Fassade schlicht gestaltet: eine hölzerne Türfassung mit halbrundem Oberlicht, ein mit Zähnchen verzierter Kranzsims, der das Schieferdach betonte, zweigeteilte Schiebefenster mit Fensterläden, ein eisernes Treppengeländer, das die vier tiefen Stufen zur Tür flankierte.
Der einzige Fassadenschmuck war eine antike Eisenplakette, die sich ein gutes Stück über dem Oberlicht befand – ein „Feuerzeichen“, das anzeigte, dass die Familie bei der örtlichen Feuerwehr in gutem Ruf gestanden hatte. Das Haus war nicht so alt, dass es eine solche Plakette tragen musste, aber einer von LydiasVorfahren hatte sie wohl von einem anderen Haus abgenommen und hier als Dekoration angebracht.
Im Stillen listete Faith die baulichen Mängel auf: Die Backsteine mussten gesäubert werden. Die graue Türfassung blätterte ab, musste stellenweise ausgebessert und komplett neu angestrichen werden. In einem Dachbodenfenster fehlte eine Glasscheibe, eine weitere Scheibe im ersten Stock war notdürftig geklebt worden. Das Treppengeländer musste abgeschmirgelt und mit Rostschutz behandelt werden – wenn unter dem Rost überhaupt noch genügend Substanz vorhanden war. Zudem waren die Büsche, die das Haus umstanden, schon fast eingegangen.
„Von außen fällt mir jedenfalls nichts auf, was sich nicht mit ein bisschen harter Arbeit beheben lässt. Als Erstes sollten wir die Leute im angrenzenden Häuserblock auffordern, sich eine Kettensäge zu leihen“, meinte Faith.
„Mir ist im Moment nicht nach Scherzen zu Mute.“
„Ich lerne gerade, auch den unangenehmen Seiten des Lebens etwas Komisches abzugewinnen.“
„Hu-huu“, machte Alex. „Es ist ein Spukhaus!“
Faith wirbelte herum, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber Lydia war schneller und packte ihn an den Schultern. „Du wirst in meiner Gegenwart solche Äußerungen in Zukunft unterlassen. Hast du das begriffen? Deine Mutter mag dein Verhalten ja niedlich finden, aber da ist sie auch die Einzige.“
Alex war mucksmäuschenstill, aber sein Gesichtsausdruck sagte alles. Faith versuchte ihren Sohn zu verteidigen. „Mutter, er wollte doch nicht ...“
„Was er wollte, ist mir egal!“ Nur zögerlich ließ Lydia das Kind los.
Faith richtete sich zu ihren vollen 162 Zentimetern auf. „Mutter,du und Remy, ihr geht vor.“ Sie langte in ihre Handtasche, fand das Handy und reichte es ihrer Tochter. „Alex und ich
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