Das Haus in Georgetown
sie heute wohl nicht vordringen. Faith traf ihre Mutter im hinteren Schlafzimmer an.
Mit ihren sechsundsechzig Jahren war Lydia eine attraktive Frau, die regelmäßig ihr Sportstudio, ihren Imageberater und ihren plastischen Chirurgen besuchte. Ihr letztes Facelifting hatte sie um Jahre verjüngt, aber die verräterischen Spuren ihrer zynischen Weltsicht nicht auslöschen können. Selbst wenn sie lächelte, starrten einen ihre blauen Augen, die denen ihrer Tochter so ähnelten, kalt an.
Im Augenblick versuchte Lydia nicht einmal zu lächeln.
„Tut mir Leid, Mutter.“ Faith wollte ihr den Arm um die Schultern legen, aber Lydia machte einen Schritt von ihr weg.
Sie wich auch ihrem Blick aus. „Mitgefühl ist nett, aber es hilft einem nicht weiter, oder?“
„Na ja, manche Menschen glauben, dass es durchaus hilft.“
„Es kann nicht wieder gutmachen, was hier schief gelaufen ist.“
„ Das können nur eine Prozession von Handwerkern und eine noch unbestimmte Menge Geld leisten.“ Als sie für ihre Mutter durchs Haus gegangen war, hatte Faith die Probleme vorläufig katalogisiert: Die Holzböden waren aufgesprungen. An den Deckenbefanden sich Wasserflecken. Der Putz musste ausgebessert und gestrichen werden. Tapeten mussten abgeweicht werden – vermutlich etliche Lagen –, bis die nackte Wand zum Vorschein kommen würde. Die Küche war schmutzig und so hoffnungslos veraltet, dass die meisten Geräte wohl nicht mehr funktionierten. Das Klosett in der Gästetoilette hatte keinen Sitz, das Waschbecken keinen Wasserhahn.
Und das war erst der Anfang.
„Ich bin selbst schuld.“ Lydia war derart still geworden, dass diese Äußerung alle überraschte. „Ich habe so getan, als gäbe es das Haus nicht.“
Sie schaute Faith an; das Gesicht ihrer Tochter war ihr offenbar lieber als der Anblick ungesicherter Steckdosen und zerfetzter Verlängerungskabel. An einer Wand lagen zwei nackte Matratzen. Der unverkennbare Gestank von Urin verlieh der ohnehin mehr als schalen Luft eine besonders erbärmliche Note. „Das war das Zimmer deiner Schwester.“
„Ich weiß.“
„Wie konnten diese Barbaren es nur so verunstalten?“
„Was hast du vor?“
„Einen Bauunternehmer beauftragen. Zahlen, was nötig ist. Tun, was getan werden muss.“
Faith fragte sich, ob „tun, was getan werden muss“ das Mantra ihrer Mutter war. Sie versuchte so behutsam wie möglich auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. „Hast du dafür Zeit? Die Arbeit muss gut überwacht werden, selbst wenn du ein gutes Unternehmen findest – was nicht leicht sein wird, weil sie alle viel zu tun haben. Und wenn die Arbeit getan ist, fangen dieselben Probleme womöglich wieder von vorne an. Studenten sind nicht unbedingt die besten ...“
„Dann werde ich diesmal an Berufstätige vermieten. Wenn das Haus renoviert ist, dürfte das nicht schwer sein.“ Lydia verzog das Gesicht. „Und nein, ich habe dafür keine Zeit. Natürlich nicht. Die nächste Wahl rückt stetig näher. Mein Terminkalender ist so dick wie das Telefonbuch, obwohl dein Vater gar nicht zur Wiederwahl steht. Aber was bleibt mir anderes übrig?“
Die Antwort schien, sobald sie Faith einmal eingefallen war, ganz einfach, einfach perfekt. Sie staunte, warum weder sie noch Lydia diese Idee nicht schon früher gehabt hatte.
Sie ging es vorsichtig an. „Im Auto hast du gesagt, dass das Haus eines Tages mir gehören wird.“
„Erzähl mir nicht, dass du es sofort verkaufen wirst. Davon will ich nichts hören.“
„Vermach es mir jetzt . Lass mich die Sache übernehmen.“
Lydia runzelte die Stirn. „Sieh dich doch um, Faith. Ich habe keine Ahnung, was die Renovierung kosten wird. Du kannst sie dir nicht leisten. Du kannst es dir nicht einmal leisten, eine Wohnung für euch zu mieten.“
„Ich könnte es mir leisten, dieses Haus zu besitzen. Die Kinder und ich können während der Arbeiten hier wohnen. Ich kann sogar einiges selbst erledigen, um Geld zu sparen.“
Jetzt packte sie die Aufregung. Zum ersten Mal seit acht Monaten verspürte sie Begeisterung, und sie genoss das Gefühl. „Ich kann streichen und tapezieren. Ich kann Schränke lackieren und vielleicht auch den Boden neu versiegeln. Und ich kann vor Ort bleiben, um die anderen Arbeiten im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie gut erledigt werden.“
„Du willst in Georgetown wohnen? Mit den Kindern?“ Lydia klang, als hätte Faith ihren Umzug in die Äußere Mongolei angekündigt.
Faith dachte
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