Das Haus in Georgetown
in Ruhe genießen kannst. Ich hole es.“
Faith hatte Überraschungen schon immer geliebt. Als Kind hatte sie in ihrem Zimmer stundenlang Karten gebastelt oder auf ihrem Kinderwebstuhl Schals gewebt. Lydia war jedes Jahr darüber begeistert gewesen, wie gern ihre Tochter andere Menschen beschenkte, und hatte sie immer dazu ermutigt.
Faith kam mit einer Schachtel zurück, die sie ihrer Mutter reichte. „Bitte schön.“
„Ist es etwas Selbstgemachtes?“
„Ein Quilt oder ein selbst gestrickter Pullover bestimmt nicht.“
„Den Schal, den du mir mit sieben gemacht hast, habe ich noch immer.“
„Also, das erstaunt mich.“
Lydia blickte auf. „Wieso?“
„Na ja, weil es sehr sentimental ist. Er war nicht gerade eine Modesensation.“
„Du meinst, violett und orange waren in dem Jahr in Mailand nicht gerade angesagt? Selbstverständlich habe ich ihn aufgehoben. Eines Tages verkleide ich mich damit und gehe vielleicht zum Mardi Gras. Ich bin praktisch, nicht sentimental.“
„Mit dem hier wirst du mehr anfangen können.“
Lydia schnürte das Band auf und wickelte die Schachtel vorsichtig aus dem Papier. Dann nahm sie den Deckel ab. Ein schmales, in Leder gebundenes Buch ruhte auf einem Seidenpapierkissen. Auf dem Titel war ein Aquarell des Reihenhauses zu sehen, darunter die Adresse in goldenen Lettern.
„Faith, du liebe Güte, was ...?“ Lydia schlug es auf und fing an zu lesen. „Was hast du getan?“
„Es ist die Geschichte unseres Hauses, Mutter. Ich habe monatelang daran gearbeitet. Damit will ich mich dafür bedanken, dass du uns hier wohnen lässt. Dass du mir das Haus überlassen hast, als ich es so dringend brauchte.“
„ Du hast das geschrieben?“ Lydia war verblüfft. Sie blätterte eine Seite nach der anderen um, bewunderte den sauber gedruckten Text, die Fotografien, die Karten und die Faksimiles von Urkunden und Dokumenten. Jeder der Frauen, denen das Haus gehört hatte, war ein Kapitel gewidmet, in dem Anekdoten aus ihrem Leben wiedergegeben und Berichte aus Zeitungen eingeklebt waren,die etwas mit ihnen oder mit dieser Gegend zu ihrer Zeit zu tun hatten.
Als sie schließlich aufblickte, bemerkte sie, dass Faith sie beobachtete. „Es ist wundervoll.“ Lydia presste es an die Brust. „Ich hatte keine Ahnung. Wo, um Himmels willen, hast du das alles her?“
„Ich habe mich zur Expertin für Lokalgeschichte entwickelt. Ich mache das sogar zu meinem Beruf. Eine weitere Studie ist schon fertig, und nach den Feiertagen fange ich die dritte an. Und dabei habe ich nicht einmal Werbung gemacht. Bisher gelte ich als Geheimtipp.“
„Du wirst keine andere Arbeit brauchen?“
„Je mehr Aufsätze ich schreibe, desto weniger Zeit brauche ich. Ich baue einen Grundstock an Hintergrundinformationen auf, habe immer mehr Kontakte, entwickle meine Fähigkeiten. Wer weiß, vielleicht muss ich irgendwann eine Assistentin einstellen.“
„Ich staune. Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.“
„Ich wollte nicht, dass dir immer gleich Weihnachten einfällt, wenn du es zur Hand nimmst. Deshalb fand ich, jetzt war der richtige Augenblick gekommen.“
Lydia legte das Buch zurück, um es später, allein, in Ruhe zu lesen. „Bin ich so durchschaubar?“
„Du meinst, ob ich geahnt habe, wie furchtbar du Weihnachten findest?“
Lydia wollte abwehren, aber Faith hob die Hand, um ihr zuvorzukommen. „Ich weiß, warum Weihnachten für dich keine gute Zeit ist.“
Es wunderte Lydia, dass sie über dieses spezielle Thema bishernicht gesprochen hatten. „Weihnachten ist harte Arbeit. Darum. Noch mehr Pflichtveranstaltungen als üblich.“
„Also hat es nichts damit zu tun, dass Dominik Dubrov sich während des Weihnachtsfestes umgebracht hat?“
Darauf war Lydia nicht gefasst. Einen Augenblick vergaß sie das Atmen. In ihr stieg Wut auf. „Faith, über dieses Thema will ich nichts hören.“
„Mutter, ich weiß, dass Dominik dein Liebhaber war. Das musst du mir nicht mehr verheimlichen. Du hast es jahrzehntelang für dich behalten, und du hattest niemanden, mit dem du darüber reden konntest. Vielleicht bin ich nicht die erste Wahl, aber ich bin diejenige, die dein Geheimnis kennt.“
„Ich glaube, du hast dich zu lange mit der Vergangenheit befasst. Jetzt siehst du Dinge, die es nie gegeben hat.“
„Es ist wahr.“
„Das habe ich dieser Frau zu verdanken, nicht? Sie lügt.“
„Dottie Lee hat mich darauf vorbereitet, aber erfahren habe ich es von Pavel.
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