Das Haus in Georgetown
aufhören“, meinte Remy. „Ich ruf dich später nochmal an. Richte deiner Mom einfach aus, dass sie mich nicht abzuholen braucht, okay? Und ruf nicht hier an, weil ich etwas schlafen will.“ Sie legte auf, bevor Megan ein neues Thema anschneiden konnte.
Der Rest des Nachmittags gehörte ihr. Sie konnte ihr Glück kaum fassen: Sie würde eine Menge Zeit mit Enzio verbringen können und am späten Abend mit einem Taxi zu Megan fahren. Faith würde es nie erfahren.
Zu dumm, dass es Winter war. Sie hätte sich gerne sexy und cool zurechtgemacht – nicht, dass ihre Mutter irgendetwas wirklich Freizügiges in ihrem Kleiderschrank duldete. Also zog sie ein schwarzes Top und darüber eine knallgelbe Bluse an, die sie über dem Bauch verknotete. Sie glitt in ihre roten Caprihosen, sodass ihre Taille frei blieb, und zog dazu ihre plumpsten Plateauschuhe an. Es widerstrebte ihr, die Wirkung durch einen Mantel zunichte zu machen, aber sie wusste, dass Megans Mutter schimpfen würde, wenn sie ohne Mantel bei ihr auftauchte. Sie konnte das Ding ja ausziehen, bevor sie an Enzios Tür klopfte.
Sie hoffte inständig, dass er da war. Seine Mitbewohner warenüber Weihnachten nach Hause gefahren, außer Colin, der noch eine Hausarbeit fertig schreiben musste. Er war die ganze Zeit in der Bibliothek. Die Chancen standen gut, dass Remy Enzio allein antreffen würde.
Alex war schon unten und versuchte mit einem Finger, eine Melodie auf dem Klavier zu spielen. „Was soll das sein?“ fragte sie.
„,Say My Name‘. Von Destiny’s Child, weißt du?“
Sie schob ihn zur Seite und spielte den Song auf Anhieb perfekt. Dann fügte sie ein paar Akkorde hinzu.
„Hey, das ist gut.“
Entnervt schloss sie das Klavier. „Ich gehe. Ich habe Megans Mutter vorgeschlagen, mich an der Ecke einzusammeln. Dann muss sie keinen Parkplatz suchen.“
„Du lügst. Ich habe gehört, was du am Telefon gesagt hast. Du hast ihr erzählt, dass dir schlecht ist und du nicht kommst.“
„Du hast dich verhört.“
„Ich bin nicht taub. Mein Zimmer liegt direkt neben dem von Mom.“
„Ich mach mich jetzt auf den Weg. Ich möchte nicht hier sein, wenn dein Vater dich abholt. Ich gehe und warte auf Megans Mom.“
Ihm war durchaus aufgefallen, dass sie von seinem Vater gesprochen hatte, aber er tat so, als hätte er es nicht bemerkt. „Wohin gehst du wirklich?“
„Das hab ich dir doch schon mitgeteilt.“ Remy lief zur Tür und drehte sich um. „Es wäre ein Jammer, wenn du irgendwem erzählen würdest, was du dir da zusammenreimst. Denn ich könnte auch über dich Lügen verbreiten. Mir fallen Millionen Lügen ein, die dir echt eine Menge Ärger einbringen würden.“ Sie schloss die Tür hinter sich, bevor er antworten konnte.
Als sie die Straße entlangschlenderte und sich eigentlich über die unerwartete Freiheit freuen wollte, musste sie ständig an Alex denken. Er hatte alles verdorben. Alex mit seinem blöden besorgten Blick. Alex, ihr dämlicher kleiner Bruder, der ihr vorschreiben wollte, was sie von allem und jedem zu halten hatte.
Sie war älter als er und wusste viel mehr. Sie war alt genug, um auf College-Jungs wie Enzio attraktiv zu wirken, und sie war alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen. Alle behandelten sie wie ein Baby, aber diese Sache würde sie jetzt selbst in die Hand nehmen. Enzio war vielleicht ein bisschen zu alt für sie, aber sie hatte ihn im Griff. Sie hatte ihr Leben im Griff. Sie würde allen beweisen, dass sie alt genug war, eigene Wege zu gehen.
32. KAPITEL
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war der Oak-Hill-Friedhof in Georgetown zum Vorzeigeobjekt einer neuen Strömung in der Friedhofsarchitektur geworden. Statt übervölkerter Kirchenhöfe legte man regelrechte Landschaftsgärten an, mit gewundenen Wegen und weitläufigen Terrassen, von denen man weit in die Runde blicken konnte: die Vorläufer moderner öffentlicher Parkanlagen.
Oak Hill mit seinem Schlüsselblumenweg und seinem Veilchenweg, der neugotischen Kapelle und den Marmorstatuen war eine gut abgeschirmte Oase in Georgetown, in die man als Lebender fast ebenso schwer hineinkam wie als Toter. Aber Faith hatte hier an etlichen Begräbnissen von Kollegen ihres Vaters teilgenommen und kannte sich auf dem sechs Hektar großen Gelände gut aus.
Dottie Lee hatte ihr die Nummer ihrer Familienparzelle genannt, und mit der Hilfe eines Verwalters – den ihr Familienname genügend beeindruckt hatte, um sie hineinzulassen – fand sie den richtigen
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