Das Haus in Georgetown
erinnern.“
„Pavel, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, hast du behauptet, mir alles erzählt zu haben.“
Er zupfte an seiner Mütze. „An diese Sache habe ich nicht gedacht. Ich hatte gehofft, einen Cousin wiederzufinden, nicht einen Kidnapper. Nichts, was ich über Sandor erfahren habe, erscheint mir für den Fall wichtig.“
„Alles ist wichtig.“
„Das wird allmählich zur Besessenheit. Wir haben ein Leben. Ich besitze eine Firma, in der im Moment alles drunter und drüber geht, und du hast Kinder, die dich brauchen. Aber wir stehen hier in der Kälte, am Grab eines Fremden, und reden über etwas, das vor Jahrzehnten passiert ist, als könnte es unser Leben verändern.“
„Das hat es schon. Es hat nicht nur unsere Kindheit beeinflusst, sondern holt uns auch jetzt noch ein.“
„Und es beeinflusst unsere Beziehung.“
„Hatten wir eine?“ Sie hatte distanziert klingen wollen. Es gelang ihr nicht.
„Natürlich. Da war etwas zwischen uns.“
Sie wollte es abstreiten, aber was auch immer sich zwischen ihnen abgespielt hatte, es brodelte noch dicht unter der Oberfläche. Sie war nicht nur hier, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, sondern auch etwas über ihre Zukunft.
„Wenn jemand eine Ahnung hat, wohin Sandor verschwunden ist, dann Dottie Lee“, meinte sie. „Sie war es, die meiner Mutter Dominik empfohlen hat. Er hat vorher für sie gearbeitet. Und Sandor vermutlich auch.“
„Wird sie uns sagen, was sie weiß?“
Dottie Lee gab ihre Informationen immer erst dann preis, wenn sie glaubte, die Zeit sei reif, aber inzwischen fragte sich Faith,ob hinter dieser Zögerlichkeit wirklich nur der Wunsch einer alten Dame nach anhaltender Aufmerksamkeit stand.
Dottie Lee hatte womöglich einen gewichtigeren Grund.
Faith hob den Kopf und sah ihm in die Augen. „Pavel, sie schützt jemanden. Ich hätte das früher erkennen müssen.“
„Sie hat meinen Vater beschützt. Sie hat ihn auf ihrer Familienparzelle beisetzen lassen.“
„Dein Vater ist tot. Dottie Lee ist alt, aber sie lebt nicht in der Vergangenheit. Sie schützt jemanden, der noch lebt.“
„Deine Mutter?“
Faith überlegte, ob sie sich vielleicht doch irrte. „Lass uns einen Kaffee trinken. Ich friere. Lass uns darüber reden und eine Strategie entwerfen. Wir müssen Dottie Lee irgendwie ermutigen, uns alles zu erzählen.“
„Es ist eine Weile her, seit wir zuletzt an einem Tisch gesessen haben.“
Sie hörte, was in dem Satz mitschwang: Diese Vertrautheit hatte ihm gefehlt. Sie hatte ihm gefehlt.
Und er hatte ihr gefehlt.
„Ich habe dir nur eine Tasse Kaffee angeboten“, warnte sie ihn.
„Ich nehme an.“
An Enzios Tür hing kein Kranz; die struppigen Büsche im schmalen Gartenstreifen trugen keine Lichterketten. Jemand hatte Schneeflocken aus Metallfolie an das vordere Fenster geklebt; Remy hatte Colin im Verdacht. Er betreute Erstklässler an einer katholischen Grundschule im Zentrum, und sie ahnte, dass ein paar der Kinder die Schneeflocken gebastelt hatten. Colin redete immer von der Schulung der Feinmotorik.
Das Haus wirkte heute nicht einladend; innen war es ebensodüster wie der schiefergraue Himmel. Einen Moment überdachte sie ihr Vorhaben. Noch war es möglich, nach Hause zu gehen und Megan anzurufen. Wenn Megans Mutter sie nicht abholen würde, konnte Remy immer noch das Taxi nehmen, das sie für später eingeplant hatte.
Sie musste das hier nicht tun.
Remy wusste nicht genau, was sie beunruhigte. Alex hatte etwas damit zu tun. Und ihre Lügen. Am Anfang war das Lügen ein Abenteuer gewesen. Indem sie sich nicht erwischen ließ, hatte sie sich bewiesen, dass sie cleverer war als ihre Eltern. Sie waren nicht die Leute, für die Remy sie immer gehalten hatte: Sie waren manchmal ziemlich dämlich.
In letzter Zeit hatte das Lügen seinen Reiz verloren. Sie war noch immer wütend, sie wollte ihnen noch immer eins auswischen, wann und wo sie konnte. Aber jetzt, da der erste Rausch vorbei war, machte es kaum noch Spaß.
Auch Enzio hatte etwas damit zu tun. Seit dem Tag, als er sie in der Küche beinahe ausgezogen hatte, waren sie nie länger als ein paar Minuten allein gewesen.
Sie erinnerte sich oft an diesen Tag: seine Hände auf ihren Brüsten, das Drängen seiner Hüften. Sie war erst vierzehn, aber viele Mädchen in ihrem Alter hatten es schon getan, und zwar mit mehr als einem.
Remy hatte bis heute dafür gesorgt, das sie nie lange mit Enzio allein war. Daran zu denken machte
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